Blinde haben immer Nacht – in Prag gibt´s aber Lichtblicke

Blinde haben immer Nacht. Was nicht heißen muss, dass sie nicht aktiv wären. Nicht wenige gehen einer Arbeit nach und nutzen dabei moderne Informationstechnologie. Und das auch auf dem Weg zur Arbeit. Christian Rühmkorf hat sich für die Sendereihe „Forum Gesellschaft“ in Prag zeigen lassen, wie man auch ohne Augenlicht durch´s Leben kommt – und durch den Verkehr. Denn da ist die Orientierung besonders schwierig und gefährlich.

Lenka Kuntošová sitzt mit einer dunklen Brille in ihrem Arbeitsraum im Tschechischen Rundfunk. Die Jalousien sind heruntergelassen. Nur ein kleiner Spalt Tageslicht fällt herein. Am Rande ihres Schreibtisches steht ein Computer mit einem Bildschirm. Den Bildschirm braucht Lenka Kuntošová nicht. Sie ertastet die wichtigen Informationen, und zwar auf einem Spezialgerät, das an den Computer angeschlossen ist. Lenka Kuntošová ist blind, seit 44 Jahren – seit ihrer Geburt. Fast ihr halbes Leben hat sie als Telefonistin im Rundfunk verbracht. Aber so modern mit Computern ging es in ihrem Leben nicht immer zu, erinnert sich Lenka Kuntošová. Früher schrieb sie noch auf einer Blindenschreibmaschine. Die hat Lenka noch ganz hinten in ihrem Schrank verstaut.

Sie sieht eigentlich aus wie eine normale Schreibmaschine – nur dass es viel weniger Tasten gibt. Sechs an der Zahl. Mit ihnen lassen sich alle Punktkombinationen der Blindenschrift tippen. Ein Relikt vergangener Zeiten, wie es scheint. Denn heute schreibt Lenka Kuntošová auf ihrem Computer, wie jeder andere Büromitarbeiter auch. Nur dass Lenkas Rechner noch ein bisschen mehr kann als die anderen. Er spricht mit ihr, sagt ihr Namen und Telefonnummern an, die sie sucht. Und im Internet surfen kann sie auch. Der Computer gibt ihr Rückmeldung, ob sie die Internetadresse richtig eingegeben hat. Und das Beste von allem: Er liest ihr vor, was zum Beispiel ganz aktuell in den Käseblättern steht. Natürlich nur in der Mittagspause:

www.blesk.cz, Lenka hat die Webseite der Blesk-Zeitung angesurft, ein Pendant zur deutschen Bildzeitung. Und schon sprudelt der Computer los. Blitzschnell erfasst er wie viele Meldungen auf der Seite sind und beginnt dann vorzulesen, was Lenka per Tastendruck ansteuert.

„Headline: Die Freundin von Radek Duda hat sich für einen heißen Kalender fotografieren lassen. Wir erfahren: Das Eishockey-Rauhbein Duda hat es schwer. Auf dem Eis kriegt er eins übergezogen, in der Kabine muss er sich anhören, dass er besser auf seine Freundin aufpassen sollte. Denn die will ja bekanntlich jeder in die Federn kriegen“, meldet der Computer.

Heiße Themen mit eiskalter Stimme blechern und monoton vorgetragen. Nicht schön, aber das sei Gewöhnungssache, sagt Lenka. Hauptsache, dass es funktioniert.


Früher, da war alles besser – diese Dauerweisheit älterer Menschen gilt für Blinde nicht unbedingt:

„Zur kommunistischen Zeit haben wir eher ein Schattendasein geführt. Aber nach der Wende hat sich einiges verändert. Jetzt gibt es die Blinden-Vereinigung hier in Prag und die veranstaltet Kurse für´s Alltägliche, damit man alleine im Haushalt klar kommt. Da lernt man Backen, Kochen und Bügeln. Aber es gibt auch Computerkurse und Kurse für die Raumorientierung. Mir hat das sehr geholfen. Ich wohne alleine und kann auch alleine backen und kochen. Einmal habe ich mit einem Freund zusammen sogar Weihnachtskekse gebacken“, erzählt Lenka.

Haushalt und Beruf, das sind Dinge, die machbar sind – auch für Blinde Menschen, meint Lenka Kuntošová. Die echte Gefahr aber lauert draußen: Der Strom, in den die Sehenden täglich und wie selbstverständlich eintauchen – der Verkehr. Lenka hat einen langen weißen Blindenstock. Einen Blindenhund hat sie nicht und vermisst ihn auch nicht. Da müsse man außerdem immer Tierarztrechungen bezahlen. Dafür hat Lenka Kuntošová aber eine kleine schwarze Fernbedienung, chipkarten-groß, mit Tasten von eins bis acht. Die trägt sie immer bei sich in ihrer Handtasche. Damit kann sie Straßenbahnen, U-Bahnen und Busse zum Sprechen bringen. Per Knopfdruck ertönt eine Ansage, welche Linie gerade einfährt und wohin es weiter geht. Mit einem anderen Knopf heißt es dann: Sesam öffne Dich!

Wie diese Fernbedienung funktioniert und was sie für Hilfssignale auslöst, wenn man sich zwischen Metrolinie A und C entscheiden muss, das zeigt Lenka Kuntošová am Nachmittag auf ihrem Heimweg.

Auf dem Weg vom Rundfunk zur Metrostation beim Museum kommt Lenka ins Erzählen...

„Ich war eine Frühgeburt und kam in den Inkubator. Und damals waren die Inkubatoren noch nicht sonderlich gut oder das Personal hat vielleicht auch geschlampt. Jedenfalls ist meine Netzhaut verbrannt.“

Über mehrere Straßen, Bordsteinkanten und Rolltreppen sind wir unten in der Metro angekommen. Lenka nimmt ihre Fernbedienung zur Hand und drückt auf die eins: Zwei Eingänge zu unterschiedlichen Metrolinien. Zwei laut hörbare unterschiedliche Signale, die sich jeweils nähern oder entfernen. Je nachdem, in welche Richtung wir gehen. Lenka braucht die Metrolinie C.

Dieses dynamische Fahrgastinformationssystem, wie es offiziell heißt, gibt es in Prag schon seit sechs, sieben Jahren. Eine tschechische Firma hat es entwickelt. Seit einiger Zeit ist es auch zum Beispiel in Dresden im Probebetrieb. In Tschechien hat man bei diesen akustischen Leitsystemen für Blinde die Nase ein Stückchen weiter vorn, wie auch Hans-Karl Peter vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband bestätigt.

Prager Metro heute
„Das ist richtig. Sie haben in Prag einen längeren Vorlauf sozusagen. Und Sie haben natürlich – wie es immer bei Pionierleistungen so ist – den Vorteil, dass Sie schon über sechs, sieben Jahre Erfahrungen des Einsatzes im öffentlichen Bereich verfügen.“

Aber einige Nachteile hat auch dieses System. Wenn zum Beispiel mehrere Busse gleichzeitig einfahren, dann kann das verwirren. Da gibt es wohl noch Entwicklungsarbeit zu leisten.

Lenka Kuntošová jedenfalls ist nach einem langen Arbeitstag fast am Ziel angekommen. Sie steht vor der richtigen Linie. Mit ihrer Fernbedienung hat sie die Tür automatisch geöffnet und tastet sich nun mit ihrem Blindenstock zwischen die Leute in die Metro vor.