„Bewegende Schicksale“ – Totalitarismus-Lesebuch erscheint auch auf Deutsch

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Im 20. Jahrhundert sind Millionen von Menschen in Europa Opfer totalitärer Verbrechen geworden. 30 Lebensgeschichten von Menschen aus 16 Ländern Europas enthält ein neues Lesebuch, das für Schüler höherer Klassen bestimmt ist. Es wurde unter dem Titel „Damit wir nicht vergessen. Erinnerung an den Totalitarismus“ von der Europäischen Plattform für Erinnern und Gewissen herausgegeben und ist inzwischen in einige Sprachen übersetzt worden. Dazu ein Gespräch mit Neela Winkelmann, der Direktorin der Plattform.

Neela Winkelmann  (Foto: Martina Schneibergová)
Frau Winkelmann, wie ist dieses Lesebuch entstanden?

„Die Idee ist gleich bei der Gründung der Plattform für das Gedenken und Gewissen Europas entstanden. Wir haben überlegt, was es auf dem europäischen Markt noch nicht gibt und was wir herausgeben könnten. Nach der ersten Idee – das war die internationale Wanderausstellung ‚Totalitarismus in Europa‘ - gab es als Zweites den Bedarf an einem Lesebuch mit bemerkenswerten Biografien von Europäern, die den Totalitarismus erlebt haben. Das waren eine, zwei oder sogar drei Diktaturen nacheinander. Solche Schicksale gab es auch in Europa.“

Foto: Archiv Radio Prag
Aus welchen Ländern stammen die Menschen, deren Schicksale in dem Buch erzählt werden?

„Wir haben Biografien aus 16 europäischen Ländern zusammengestellt: aus Schweden, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Deutschland, den Niederlanden, Österreich, Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Slowenien, Rumänien, Bulgarien, Moldau und der Ukraine.“

Wer hat die Geschichten zusammengetragen?

Milada Horáková
„Einige der Zeitzeugen haben ihre Biografien selbst verfasst, sie sind also in der Ich-Form. Andere sind in der dritten Person und wurden von unseren Kollegen aus den verschiedenen Partner-Institutionen der Plattform aufgeschrieben und eingereicht, zum Beispiel von Historikern. Aber auch Bekannte der jeweiligen Zeitzeugen haben deren Geschichten niedergeschrieben.“

Mit welchen Lebensgeschichten ist Tschechien im Lesebuch vertreten?

„Wir haben zwei Biografien ins Buch aufgenommen. Zum einen ist das die Geschichte von Milada Horáková. Sie war eine herausragende Persönlichkeit, die sowohl im Widerstand gegen das NS-Regime tätig war, als sich dann auch den Kommunisten widersetzte und dafür in einem Schauprozess zu Tode verurteilt wurde. 1950 wurde sie von den Kommunisten hingerichtet. Die zweite Biografie ist die eines Helden des Zweiten Weltkriegs namens Josef Bryks. Er war Pilot bei der Royal Air Force und ist mehrfach aus deutscher Gefangenschaft geflüchtet. Dann wurde er von den Kommunisten inhaftiert und ins Konzentrationslager zum Uranabbau gesteckt. Dort ist er im Alter von 41 Jahren elendig gestorben.“

Foto: ČT24
Haben Sie persönlich durch die Geschichten auch neue Erkenntnisse hinzugewonnen?

„Für mich war es eine sehr bewegende Arbeit. Jede Geschichte war etwas Neues. Wir haben für das Lesebuch nicht nur die Biografien zusammengestellt, sondern auch historische Einleitungen zu jedem der Länder geschrieben. Außerdem haben wir in den Text Infoboxen eingefügt, damit wollen wir den jungen Europäern von heute bestimmte Begriffe und Tatsachen verständlich machen. Durch die Arbeit an dem Buch sind mir viele Zusammenhänge besser bewusst geworden, zum Beispiel die Verflochtenheit der beiden Diktaturen: Der Hitler-Stalin-Pakt hatte damals verheerende Auswirkungen auf das Leben der Menschen in den jeweiligen Ländern. Durch die Biografien wird dies besonders deutlich. Es ist ein Unterschied, ob man ein enzyklopädisches Geschichtsbuch liest oder wirklich in das Leben der damals betroffenen Menschen eintauchen kann.“

Foto: Archiv Radio Prag
In dem Lesebuch wird unter anderem das Schicksal einer ukrainischen Lehrerin erzählt…

„Wir haben drei Geschichten aus der Ukraine in das Buch aufgenommen. Eine handelt von einer mutigen Lehrerin aus den 1930er Jahren. Sie führte Tagebuch während der von Stalin hervorgerufenen großen Hungersnot, die den Widerstand in der Ukraine brechen sollte. Trotz der fürchterlichen Ereignisse hatte diese Lehrerin ihre Menschlichkeit bewahrt und sie versuchte ihre Eindrücke und Erlebnisse in einem Tagebuch festzuhalten. 1945 wurde sie nach dem Krieg wegen dieser Aufzeichnungen vor Gericht gestellt und für zehn Jahre ins Gulag (sowjetisches Straf- und Zwangsarbeitslager, Anm. d. Red.) geschickt. Sie hatte zuvor die Verfolgung und Inhaftierung durch die Nationalsozialisten überlebt und wurde dann von den Sowjets verurteilt, nur weil sie für ihre Kinder diese Tagebücher geführt hatte.“

Geschichte von Juliana Zarchi  (Foto: Archiv Radio Prag)
Ein ähnlich grausames Schicksal erlitt auch ein Mädchen aus Litauen…

„Das ist eine litauische Geschichte von Juliana Zarchi. Ich hatte letztes Jahr die Ehre, sie persönlich in Vilnius in Litauen kennenzulernen, wo sie heute lebt. Sie hatte eine deutsche Mutter und einen jüdischen Vater. Nach der Besetzung des Baltikums wurde ihr Vater ermordet. Da Julianas Mutter Deutsche war, wurden Mutter und Tochter nach dem Krieg durch Stalin nach Tadschikistan vertrieben. Dort verbrachten sie 16 Jahre im Exil und mussten unter elendigen Bedingungen Zwangsarbeit verrichten. Schließlich durften sie dann doch wieder in ihre Heimat zurückkehren.“

Stammen von ihr auch die Ansichtskarten, die in dem Buch abgebildet sind?

„Nein, sie stammen von einem lettischen Mädchen, das mit ihren Eltern nach Sibirien deportiert wurde. Die Ansichtskarten wurden uns vom lettischen Okkupationsmuseum zur Verfügung gestellt und sind eine Rarität, da sie von dem jungen Mädchen mit Buntstiften gezeichnet wurden. Sie hat auf den Karten die Ereignisse festgehalten und diese an ihre Tante zurück nach Riga geschickt. Diese Zeitdokumente sind gut erhalten und wurden erst vor kurzem entdeckt, wir durften sie nun in unserem Buch abdrucken. Darüber hinaus ist die Frau noch am Leben und hat uns auch ihre eigene Geschichte erzählt.“

Vorstellung des Buches „Damit wir nicht vergessen. Erinnerung an den Totalitarismus“ an einer Schule  (Foto: Archiv der Europäischen Plattform für Erinnern und Gewissen)
Sie haben das Lesebuch bereits an mehreren tschechischen Schulen vorgestellt. Wie haben die Schüler darauf reagiert?

„Es waren nur zwei Unterrichtsstunden mit den Schülerinnen und Schülern, daher gab es keine Zeit für große Diskussionen. Trotzdem denke ich, dass alle sehr betroffen und beeindruckt waren. Das Buch hat es geschafft, Empathie bei den jungen Menschen hervorzurufen, und genau das war unser Ziel. Wir wollten nicht nur eine trockene Geschichtsdarstellung herausgeben, sondern Geschichten von Zeitzeugen sammeln, die Jugendliche ansprechen. Die Darstellungen sollen ihnen veranschaulichen, wie furchtbar es war, in einem totalitären Regime zu leben. Außerdem vermitteln sie, wie wichtig es ist, unter allen Umständen die menschlichen Werte zu bewahren. Ich glaube, die jungen Leute haben auf die Biografien sehr empfindlich reagiert: Keiner der Schüler verließ den Klassenraum während der Stunde oder in der Pause. Alle haben die ganze Zeit mitgearbeitet, und einige wollten sich sogar nach Ende der Stunde noch weiter unterhalten.“

Stéphane Courtois  (Foto: YouTube)
Wann wird das Lesebuch in Deutschland vorgestellt?

„Wir laden dazu am 1. April herzlich in die Sächsische Landesvertretung nach Berlin ein.“

Das Lesebuch „Damit wir nicht vergessen. Erinnerung an den Totalitarismus in Europa“ wird am 1. April um 19 Uhr in der Vertretung des Freistaates Sachsen in der Brüderstraße 11/12 in Berlin vorgestellt. Ein Grußwort spricht unter anderem der Präsident der Europäischen Plattform für Erinnern und Gewissen, Göran Lindblad. Über das Thema des Buches wird zudem Professor Stéphane Courtois referieren, er hat das „Schwarzbuch des Kommunismus“ herausgegeben. Zudem findet eine Gesprächsrunde mit Zeitzeugen statt, an der auch Juliana Zarchi aus Litauen teilnehmen wird – ihre Lebensgeschichte ist im Lesebuch geschildert.