Sprachloses Leiden in Gesundheitsfabriken

Gleich zu Beginn wollen wir Maximilian Gottschlich das Wort geben, einem Kommunikationswissenschaftler, der in seinem Fachgebiet einen Schlüssel zur Beantwortung wichtiger medizinethischer Fragen sieht. Wir haben ihn im Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien besucht:

Herr Professor Gottschlich, Sie sind Kommunikationswissenschaftler, beschäftigen sich unter anderem intensiv mit Fragen der Ethik in der Massenkommunikation, wenden sich aber auch einem Gebiet zu, das eigentlich hauptsächlich mit interpersoneller Kommunikation zu tun hat - nämlich der Medizin. Wo sind da die Schnittstellen, und wo herrschen Ihrer Meinung nach die Defizite?

"Es gibt eine Kluft zwischen dem rasanten medizintechnologischen Fortschritt und der gleichzeitig abnehmenden Fähigkeit und Bereitschaft der Medizin, sich noch mit dem Individuum, mit dem leidenden Menschen auseinander zu setzen. Die einzige Chance, diese Kluft zu überbrücken, besteht darin, dass sich die Medizin ihrer kommunikativen Aufgabe bewusst wird. Ein Mensch, der leidet, hat einen sehr hohen Kommunikationsbedarf. Die Antwort des Medizinsystems auf den Menschen ist heute eine der Kundenbeziehung. Aber der kranke Mensch braucht nicht Kundenfreundlichkeit, sondern menschliche Zuwendung, empathische Kommunikation. Nun gibt es sehr viele Argumente, warum das nicht gelingen kann. Ein Hauptargument der Ärzte oder des Medizinsystems besteht darin, dass die Zeit nicht ausreicht. Und mit der knappen Zeit geht auch das ökonomische Argument einher. Man sagt, dass die personelle Zuwendung zwischen Arzt und Patient ineffizient ist, weil sie der ökonomischen Rationalität nicht entspricht. Man könne nicht Zeit verwenden für etwas, das man nicht messen kann. Nun zeigen aber alle internationalen Untersuchungen, die wir uns angesehen haben, dass Patienten, die zufrieden sind, die eine positive kommunikative Zuwendung erfahren haben, auch schneller gesund werden und schneller das Krankenhaus verlassen können. Auch die operativen und postoperativen Verläufe sind dann rascher. Das heißt: Positive Kommunikation ist in der Tat auch ein positiver ökonomischer Faktor, der viele Kosten des Gesundheitssystems zu mindern hilft."

Wie könnte man aus diesem Teufelskreis herauskommen? Bleibt alles am Goodwill der Ärzte hängen und an ihrer Fähigkeit, mit den Patienten zu kommunizieren? Oder sehen Sie auch systematische Lösungen, sei es in der Politik, in der Gesetzgebung oder in der Ausbildung von Ärzten?

"Ehrlich gesagt: Von der Politik erwarte ich mir am allerwenigsten. Ich glaube, es muss zu einem neuen Bündnis zwischen Ärzten und Patienten kommen. Interessanterweise zeigt sich ja, dass die Enttäuschung über das Medizinsystem auch von den Ärzten selbst geteilt wird. Heute ist es so, dass jeder zweite deutsche Arzt nicht mehr Arzt werden wollte. Warum wohl? Nicht, weil er seinen Beruf verfehlt oder weil die Motivation nachgelassen hat, sondern weil das Medizinsystem ein inhumanes geworden ist. Die einzige Chance besteht darin, dass sich Patienten und Ärzte zu einer neuen Solidaritätsgemeinschaft zusammenfinden."