Wo Hašek und Kafka an einem Tisch saßen: Prager Café Montmartre

Café Montmartre (Foto: Ian Willoughby)

Jede große Stadt in Mitteleuropa hatte früher ihre berühmten Cafés. Dort trafen sich Künstler, Schriftsteller und Politiker, aber auch alle Bewohner, für die es sich gehörte, ein Stammcafé zu haben. In Prag war und ist das nicht anders: Slavia, Louvre oder Montmartre – werden auch heute noch häufig besucht. Das letztgenannte Café erlebte sogar nach der Wende 1989 seine Renaissance. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es jedoch dadurch besonders, dass sich hier sowohl tschechische als auch deutsche und jüdische Intellektuelle trafen. Ein Streifzug durch die Kaffeehauskultur des früheren Prags.

Café Montmartre  (Foto: Ian Willoughby)
Aus der Straße Řetězová in der Prager Altstadt muss man zunächst durch einen Hof gehen. Dann gelangt man in ein unauffälliges Gebäude, in diesem befand sich im Mittelalter eine Brauerei, deswegen heißt es auch heute noch Maßhaus. Schon im Eingang saugt man die Atmosphäre des beginnenden 20. Jahrhunderts auf. Der Vorraum ist eher wie in einer Wohnung gestaltet: leicht vernachlässigte Sofas, Lampen mit einem Schirm aus Pergament, Kleiderhaken aus krummem Holz. Die Wände sind mit alten Fotografien der berühmtesten Stammgäste geschmückt: Neben dem Porträt des Schriftstellers Jaroslav Hašek, Autor der legendären Geschichte vom Soldaten Schwejk, hängt hier auch das der Revolutionärin Emča, einer wilden Tänzerin, Prostituierten und Kämpferin für soziale Gerechtigkeit, wie sie in Legenden beschrieben wird.

„Almanach der böhmischen Synkope“
Durch einen Wandbogen geht es weiter in den Hauptraum. Früher stand dort eine Bühne, wo der Überlieferung nach ein Pianist namens Josef Trumm spielte. Dieser extrem dicke Mann soll seine Arbeitszeit nach den 40 Bieren bemessen haben, die er immer trank. Nachdem er das vierzigste Glas leer auf das Piano gestellt hatte, war sein Auftritt zu Ende. So steht es im Buch „Almanach der böhmischen Synkope“ von Josef Kotek. Frei übersetzt lässt sich dort unter anderem Folgendes lesen:

„Das Café Montmartre wurde 1911 von dem bekannten Prager Kabarettisten Josef Waltner gegründet. Von allen Gasthäusern in der Altstadt hatte es die besten Voraussetzungen, zum Zentrum der künstlerischen Bohème zu werden. Es befand sich in einer Nebengasse in einem altertümlichen Haus. Die Decke in der Hauptstube war mit kühnen erotischen Bildern ausgemalt, die wie eine Parodie auf den damals verbreiteten Kubismus wirkten. Es gab dort regelmäßige Programme, in denen Sänger und Schauspieler aus unterschiedlichen Prager Theatern auftraten. Später engagierte Waltner auch ständige Mitwirkende aus den Reihen der damals arbeitslosen Künstler, zum Beispiel Emil Arthur Longen und seine Ehefrau Xena, die französische Chansons perfekt vortrugen.“

Erotische Bilder und Hašeks Saufgelage

Foto von Egon Erwin Kisch im Café Montmartre  (Foto: Václav Müller,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Dass die Geschichte des Cafés sehr gut dokumentiert ist, das ist vor allem dem deutschsprachigen Journalisten Egon Erwin Kisch zu verdanken. In seinem Buch „Abenteuer in Prag“ erwähnt er unter anderem, dass während der Habsburgermonarchie in dem Café zum ersten Mal Tango getanzt wurde. Josef Waltner soll diesen Tanz in Paris gesehen und auch sofort gelernt haben. Diese Informationen lassen sich heute nicht mehr überprüfen. Kisch war aber jedenfalls Stammgast im Montmarte, sagt der heutige Eigner des Cafés, Milan Jaroš.

„Das Café hatte zur Zeit seiner Gründung von zehn Uhr abends bis zehn Uhr vormittags geöffnet. Weil die meisten Prager Lokale ab Mitternacht schon geschlossen hatten, versammelten sich diejenigen, die noch nicht nach Hause gehen wollten, eben hier. Man sollte vielleicht anmerken, dass das Montmartre ein Treffpunkt für tschechische, deutsche und jüdische Gäste war. Die meisten Menschen bevorzugten nämlich hingegen ihre Cafés nach der Nationalität. Hier saßen sie aber alle an einem Tisch: Jaroslav Hašek, Franz Kafka, Johannes Urzidil und Gustav Meyrink – einfach die ganze Prager Bohème.“

Jaroslav Hašek
Der treueste Stammgast des Montmartre war Jaroslav Hašek, vor dem Ersten Weltkrieg schon als Journalist und Autor satirischer Erzählungen bekannt. Im selben Jahr, als das Café Montmartre eröffnete, gründete Hašek 1911 die groteske „Partei des gemäßigten Fortschritts in den Schranken des Gesetzes“, die zugleich eine politisch-künstlerische Aktionsgruppe war. Zu dieser Zeit führte er aber ein ziemlich wildes Leben.

Wirt Waltner setzt Hašek vor die Tür

Wie Egon Erwin Kisch berichtet hat, soll Hašek in allen Prager Gasthäusern bekannt gewesen sein, das Café Montmartre sei jedoch seine unglückliche Liebe gewesen. Er soll das Lokal immer erst in den späten Abendstunden besucht haben, als er sich wegen Alkoholgenusses angeblich nur noch wenig beherrschen konnte und wohl sehr laut war. Zu bestimmten Zeiten nutzte er das Café praktisch auch als sein Zuhause. Josef Waltner ermöglichte ihm, in einer Nebenstube zu übernachten. Manchmal aber ärgerte sich der Wirt über ihn, denn dieser soll die „gute Klientel“, die Josef Waltner mit allen Kräften ins Café locken wollte, gestört haben.

Josef Waltner
„Hašek erheiterte manchmal das Publikum mit verschiedenen Erzählungen oder Auftritten. Er setzte sich zum Beispiel auf die Bühne und wickelte eine halbe Stunde lang seine Fußlappen ab. Ein anderes Mal verhielt er sich aber so laut und unerträglich, dass ihn Josef Waltner vor die Tür setzte und ihm nachschrie, er solle sich nie wieder blicken lassen. Am anderen Tag saß der Schuldige vor dem Eingang und wartete auf einen Bekannten, der für ihn bei Waltner ein gutes Wort einlegen könnte. Das geschah natürlich jedes Mal, und Hašek durfte wieder rein. Es gibt auch die Legende, dass Hašek zusammen mit einem weiteren Saufkumpan irgendwo nicht bezahlen konnte und verhaftet wurde. Nachdem die Nachricht ins Montmartre geflattert war, soll Waltner seinen Kellner geschickt haben, um im betroffenen Lokal die Rechnung zu begleichen. Beide Männer kamen so wieder frei“, so Jaroš.

Nach der Wiedereröffnung wurde Havel zum Stammgast

Josef Waltner hatte ein Faible für die Bohème. Er war von Paris begeistert und wollte die Atmosphäre der Stadt an der Seine an die Moldau bringen. Dem entsprachen auch die Namen der Cabaret-Shows, die er vor und nach dem Ersten Weltkrieg in Prag ins Leben rief: Montparnasse, Moulin Rouge oder Mont-Waltner. Er spielte auch in mehreren Filmen mit, jedoch nur Nebenrollen. In den 1930er Jahren entwickelte er die Unterhaltungsprogramme im Tschechoslowakischen Rundfunk. Zwischen 1933 und 1939 war Waltner Vorsitzender des Vereins der Autoren populärer Musik und gab auch einen Almanach der Sänger dieses Genres heraus. Seine Herzensangelegenheit blieb jedoch das Café Montmartre, betont Milan Jaroš:

Café Montmartre  (Foto: Ian Willoughby)
„Herr Waltner gab sogar das Jahrbuch des Cafés heraus. Im Impressum der Exemplare, die ich sehen konnte, hat mich die Auflage beeindruckt: 1000 Stück. Das war zur damaligen Zeit eine sehr hohe Zahl. In den Jahresbüchern findet man Beiträge von den prominenten Stammgästen, aber auch gelegentlichen Besuchern. Darüber hinaus war dort die Innengestaltung des Cafés dokumentiert, denn Waltner ließ den Raum schrittweise mit modernen und interessanten Bildern ausstatten. Damit beauftragte er bedeutende Künstler von damals. Beispielsweise stellte der Typograph, Maler und Buchillustrator Vratislav Hugo Brunner dort die sieben Todsünden dar. Die kubistische Decke stammt von Jiří Kroha, der später ein anerkannter Architekt und Designer wurde. Auch der bekannteste tschechische Vertreter des Art déco, Josef Kysela, hinterließ hier seine Spur. Heute ist all dies leider nur noch auf Fotografien erhalten, aber einige von ihnen lassen sich auch in bstimmten Fachbüchern über den Kubismus finden.“

Foto: Kristýna Maková,  Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prag
Die goldene Ära des Cafés Montmartre ging schon Anfang der 1920er Jahre zu Ende. Josef Waltner war immer mehr an anderen Orten tätig, und auch die alten Stammgäste bevorzugten mittlerweile einen anderen Lebenswandel, als bis morgens früh zu trinken und zu singen. 1929 schloss das Café für viele Jahrzehnte. In kommunistischer Zeit wurden die Räume als Lager oder als Büros genutzt. Erst in den 1990er Jahren kaufte der heutige Eigner Milan Jaroš das Haus und erneuerte den schon fast vergessenen Gastbetrieb. Und er konnte im Café schon bald einen ganz prominenten Gast begrüßen: Staatspräsident Václav Havel, der sich übrigens auch der Bohème nahe fühlte.

Václav Havel  (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks)
„Ich muss sagen, Havel war ein ganz bescheidener, ein anspruchsloser Gast. Er setzte sich an seinen Stammplatz und notierte, was er erledigen musste. Manchmal schrieb er da auch die Konzepte seiner Reden. Er bemühte sich, so unauffällig wie möglich zu wirken. Meine Ehefrau redete er mit „liebe Hausfrau“ an“, sagt Milan Jaroš.