Wie Prag sauber wurde – der Bau der Kanalisation

Foto: Kateřina Havlíková, Archiv des Tschechischen Rundfunks

Auch in der Goldenen Stadt muss es in der frühen Neuzeit noch beträchtlich gestunken haben. Von einem modernen Abwassersystem war bestenfalls zu träumen. Das entstand wegen der schwierigen Topographie und nach politischen Streitigkeiten erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, war aber für seine Zeit sehr modern. Im Folgenden mehr zu diesem geruchsintensiven Teil der tschechischen Geschichte.

Museum der Prager Wasserwerke  (Foto: Kateřina Havlíková,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Tief unter Prag fließen die Abwässer der Stadt. Über 4500 Kilometer lang ist die Kanalisation heute. Doch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein war an so etwas überhaupt nicht zu denken. Kryštof Drnek ist Referent beim Archiv des Museums der Prager Wasserwerke:

„Jedes Haus hatte damals einen eigenen Ausfluss, ein eigenes Auffangbecken oder eine eigene Güllegrube. Ein städtischer Dienst hat diese Orte dann geleert, wobei die menschlichen Ausscheidungen für die Landwirtschaft genutzt wurden. Die erste Idee, eine zentrale Kanalisation unter der Erde zu schaffen, kam vom Ingenieur Leonard Herget. Mit dem Bau wurde 1791 begonnen.“

Die Arbeiten werden jedoch gleich wieder gestoppt. Zum einen behindern die Napoleonischen Kriege das Projekt, zum anderen die finanzielle Planung. Denn die Hauseigentümer sollen die Kanalisation gemäß der Länge ihrer Häuser bezahlen, was sie aber ablehnen. Erst 1816 bis 1828 werden die ersten 44 Kilometer dann angelegt. Darum verdient macht sich Hofkanzler Karel Graf Chotek. Aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts reicht sein System der Abwasserentsorgung nicht mehr aus, es ist hoffnungslos veraltet. Denn auch Prag wächst zu einer Industriestadt heran.

Kryštof Drnek  (Foto: ČT24)
„Ein Problem war, dass die ganzen Abwässer letztlich in die Moldau gelangten. Es gab etwa 40 Kanalausflüsse. Das zweite und größere Problem lag jedoch darin, dass die Rohre nicht gut entworfen waren. Sie waren rechteckig und führten teils nach oben. Die Hälfte der 44 Kilometer waren zudem blinde Kanäle. Die mussten dann auf umständliche Weise gesäubert werden. Dennoch entstanden dort unterirdische Abfallhalden und damit riesige Krankheitsherde“, so der Archivar.

Dünger aus menschlichen Hinterlassenschaften

In den 1880er Jahren wird intensiv nach einer Lösung gesucht. Die Meinungen gehen weit auseinander. Eine Idee lautet, unterirdische Reservoirs für die Abwässer zu bauen und den Dreck dann aus der Stadt zu schaffen. Die andere lautet, im hügeligen Prag ein Geflecht von Freispiegelleitungen zu schaffen, die auf dem Prinzip der Schwerkraft basieren. Kryštof Drnek:

Kläranlage in Prag-Bubeneč  (Foto: Kateřina Havlíková,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
„Gegen diese Art der Kanalisation sprach sich die damalige landwirtschaftliche Lobby aus. Sie warnte, dass der Stadt große Einnahmen verloren gehen würden. Denn die menschlichen Hinterlassenschaften, die in die Kanalisation gespült wurden, verkaufte man weiterhin als Dünger. Mehrere ältere Stadträte erhoben also Einspruch. Dennoch wurde entschieden, dass Freispiegelleitungen die einzige Lösung seien für das Prag, wie es als moderne Stadt sein wollte.“

Deswegen wird ein Wettbewerb ausgeschrieben, der aber scheitert. Denn keiner der eingereichten Vorschläge genügt den Vorgaben. Also machen sich zwei Ingenieure der Stadt unaufgefordert an die Arbeit: Čeněk Ryvola und Josef Václavek. Sie entwerfen eine Kanalisation auf zwei Ebenen. Vor allem aber soll das Abwasser bis in eine Kläranlage im damaligen Außenbezirk Bubeneč geleitet werden.

William Lindley
Doch politische Streitigkeiten verhindern eine Umsetzung der Ideen. Deswegen wendet sich das Rathaus der Stadt an einen ausländischen Experten: William Lindley.

„Ingenieur Lindley war nicht zum ersten Mal in Kontakt mit Prag. Er hatte schon in den 1880er Jahren beratend zur Seite gestanden, denn damals war er Baurat in Frankfurt gewesen. Für die Stadt am Main hat er auch die Kanalisation entworfen. Zugleich war er langjähriger Baurat in Warschau, und ebenso für die polnische Stadt plante er das Abwassersystem“, sagt Drnek.

Kanalisation auf zwei Ebenen

Zwar soll der britische Ingenieur eigentlich nur entscheiden, welches bisherige Projekt für Prag das richtige sei. Doch er überrascht alle und entwirft ein eigenes. Dabei greift er auch auf die bereits bestehenden Ideen zurück – wie etwa ein Abwassersystem auf zwei Ebenen und ein langer Kanal unter der Letná hindurch zu einer Kläranlage in Bubeneč. Archivmitarbeiter Kryštof Drnek:

Hochwasser in Prag 1872  (Foto: František Fridrich,  Public Domain)
„Die Lösung war speziell auf die besondere Topographie und das Klima Prags abgestimmt und hätte nicht auf andere Städte übertragen werden können. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts gab es hier regelmäßig Hochwasser und auch Starkregenfälle. Dies geschah aber nie zur gleichen Zeit. Zu Hochwasserzeiten drückte das Abwasser aus den höher gelegenen Stadtteilen in die niederen und führte dort zu Überschwemmungen, indem das Abwasser aus der Kanalisation auslief. Deswegen griff er auf die Idee zurück, die Kanalisation auf zwei Ebenen anzulegen. Die obere umfasste die Altstadt – und die untere die Neustadt sowie die damaligen Vorstädte wie etwa Karlín und Holešovice. Bis heute lassen sich bei Hochwasser beide Teile durch Klappen voneinander trennen, so dass auch die Kanalisation in den niedrigeren Teilen Prags funktionsfähig bleibt.“

Foto: Kateřina Havlíková,  Archiv des Tschechischen Rundfunks
Für die Rohre wird eine ovale Form mit elliptischer Wölbung gewählt. Außerdem schlägt Lindley ein damals noch besonderes Material vor:

„Das gesamte Abwassersystem wurde aus Klinkerstein gebaut. Das Material ist besonders robust und ausgesprochen teuer. Das wurde zu einem Streitpunkt. Der Prager Ältestenrat votierte dafür, Beton zu verwenden. Denn die damaligen Hersteller hatten Prag ein günstiges Angebot gemacht. Lindley sagte jedoch, er werde sicher nicht mit Beton bauen, das sei nicht ausreichend robust. Damals setzte sich gerade der Trend durch, Klinkerstein für die Kanalisation zu verwenden.“

Dreifache Reinigung

Jiří Wanner  (Foto: Marián Vojtek,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
1894 fällt die Entscheidung zugunsten des Projekts von Lindley. Vier Jahre später wird mit dem Bau begonnen und auch der Tunnel unter der Letná durchgestoßen. Am 27. Juni 1906 geht die Kläranlage in Bubeneč in Probebetrieb, und die Hauptleitung wird freigegeben. Jiří Wanner von der Chemisch-Technischen Hochschule in Prag:

„Prag war eine der ersten Großstädte auf dem Kontinent, die eine für damalige Zeit moderne Kläranlage erhielten. Das bedeutete, dass das Abwasser zuerst durch ein Sieb geleitet wurde, um Gegenstände und größere Partikel herauszufiltern. Als Nächstes mussten Sand und Erde aufgefangen werden. Und der letzte große Schritt war das Becken, in dem sich organische Stoffe absetzten. Die Wasserqualität entsprach dem, was heute aus dem Vorklärbecken kommt. So konnten etwa 30 Prozent der organischen Stoffe entfernt werden.“

Foto: Kateřina Havlíková,  Archiv des Tschechischen Rundfunks
Lindley hatte sogar noch ein chemisches Zusatzverfahren vorgeschlagen. Doch der entstehende Kalk wäre dann schadstoffbelastet gewesen. Und da auch dieser an die Bauern verkauft wurde, verzichteten die Stadtoberen auf eine weitere Reinigung des Abwassers.

Frisch in Betrieb genommen, funktionierte alles einwandfrei – bis auf ein paar kleinere Fehler an den Pumpen, die aber behoben wurden. Nach einem halben Jahr war die Maximalleistung erreicht: 160.000 Kubikmeter Abwasser am Tag.

Nach dem Ersten Weltkrieg wuchs die neue Hauptstadt der Tschechoslowakei aber rapide weiter. Deswegen verlegte man ab den 1920er Jahren viele Kilometer neue Rohre und baute weitere Reinigungsanlagen. Und auch eine Modernisierung von Lindleys Abwassersystem wurde langsam aktuell.