Vermittlungsversuche tschechischer Literatur in Deutschland 1880-1910

Friedrich Adler (Foto: Public Domain)

Übersetzungen sind für die tschechische Literatur von enormer Bedeutung ¬ vor allem für die Einbindung in den europäischen Kontext. In der Vergangenheit war das nicht anders. Česká moderna – die Tschechische Moderne war eine Gruppierung junger Literaten und Literaturkritiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die sich hauptsächlich an Frankreich als Zentrum moderner Kunstströmungen orientierte. Doch auch die Vermittlung ihrer Werke in Deutschland spielte für die Künstler eine wichtige Rolle. In den Zeitschriften „Die Gesellschaft“, „Aus fremden Zungen“ oder „Monatsschrift für neue Literatur und Kunst“ wurden polemische Texte, Kritiken und Übersetzungen der tschechischen Werke publiziert. Radio Prag sprach über diese Vermittlungsprozesse und die Vermittler mit der Literaturhistorikerin Lucie Merhautová.

Lucie Merhautová  (Foto: Archiv von Lucie Merhautová)
Frau Merhautová, es geht um die Vermittlung der tschechischen Literatur – konkret der tschechischen literarischen Moderne – in Deutschland. Was war eigentlich die literarische Moderne, von welcher Zeit und welchen Stilrichtungen reden wir?

„Wir sprechen über die Jahrhundertwende, das heißt ungefähr über den Zeitraum von 1880 bis 1910, wo sich die realistische und die symbolistische Moderne durchsetzten. In dieser Zeit war zunächst die Vermittlung der Werke von Jaroslav Vrchlický am wichtigsten, dann kamen die Werke der symbolistisch-dekadenten Moderne.“

War die Entwicklung in der tschechischen und deutschsprachigen Literatur in der Zeit um die Jahrhundertwende vergleichbar? Gab es ähnliche Strömungen?

„Im Bereich der Lyrik hat die tschechische Literatur etwas geleistet, was auch für die deutsche Literatur interessant war – die wirklich einzigartigen Werke von Březina, Sova, Karásek, Dyk, Theer und anderen.“

„Ja, die deutsche Moderne beginnt mit dem frühen Realismus oder Naturalismus, d.h. mit Autoren wie zum Beispiel Michal Georg Conrad oder den Gebrüdern Hart. Bedeutende Zeitschriften sind ‚Die Gesellschaft‘ in München oder die Zeitschriften der Harts in Berlin. Sowohl für die deutsche als auch für die tschechische Literatur war die Literaturkritik sehr wichtig. Da würde ich eine Parallele sehen. Aber wenn wir über den Realismus sprechen, da war die tschechische Literatur sehr verspätet. So hat die tschechische Literatur keinen großen realistischen Roman. In der tschechischen Kritik reflektierte man die deutsche Dramatik sehr viel, besonders Autoren wie Hauptmann oder Halbe. Solche Dramatiker hatte die tschechische Literatur nicht. Wenn man aber den Bereich der Lyrik anschaut, hatte dort die tschechische Literatur etwas geleistet, was auch für die deutsche Literatur interessant gewesen wäre – die wirklich einzigartigen Werke von Březina, Sova, Karásek, Dyk, Theer und anderen.“

War die Übersetzung ins Deutsche die erste Übersetzung in eine Fremdsprache? War es der erste Schritt auf dem Weg nach Europa?

„Wenn die tschechischen Werke auf Deutsch erschienen, konnten sie vielleicht auch von jemandem in Frankreich gelesen werden.“

„Das ist eine sehr gute Frage, weil sich die tschechische literarische Moderne eigentlich an Frankreich orientierte – wie übrigens auch alle anderen europäischen Modernen. Paris und Frankreich waren das Zentrum der Moderne, danach vielleicht noch London und Italien. Am besten wäre es also gewesen, wenn man unmittelbar eine Anbindung an Frankreich entwickelt hätte, was aber nicht direkt möglich war. Deutschland war der nächste Nachbar, die deutsche Sprache die nächstgelegene große Sprache, auch wenn die Beziehung zwischen den Tschechen und Deutschen umso komplizierter war. Natürlich haben die tschechischen Autoren, besonders die jungen, sehr viel deutsche Zeitschriften gelesen oder das deutsche Theater verfolgt. Sie wussten genau, was in Berlin, in München oder in Wien geschah. Und wenn ihre Werke auf Deutsch erschienen, konnte sie vielleicht auch jemand in Frankreich lesen. Die Vermittlung durch die deutsche Sprache war demnach sehr wichtig.“

Illustrationsfoto: Štěpánka Budková
Wer waren die Vermittler in dieser Generation? Das müssen Menschen gewesen sein, die beide Sprachen beherrschten…

„Es war eine ganz heterogene Gruppe von Vermittlern. Wir finden unter ihnen zum Beispiel viele Frauen, weil Frauen sehr oft in Sprachen ausgebildet wurden. Das Übersetzen war dazu eine Arbeit, die sie von zu Hause machen konnten. Es gab mehr Frauen, die aus dem Deutschen ins Tschechische übersetzten. Aber auch im Bereich der tschechischen Übersetzungen ins Deutsche findet man bedeutende Frauen wie Zdenka Hostinská und Anna Auředníčková. Es gab natürlich auch das Phänomen der Selbstübersetzung, das heißt tschechische Autoren übersetzten ihre Werke selbst. Auch tschechische Gymnasiallehrer und -lehrerinnen übersetzten häufig. Zuletzt bilden die deutschsprachigen Schriftsteller aus den böhmischen Ländern eine wichtige Gruppe.“

Wien um 1900  (Foto: Library of Congress,  Public Domain)
Also beide Gruppen, sowohl die Autoren, die Tschechisch als Muttersprache hatten, als auch die deutschsprachigen…

„Ja. Natürlich die tschechischsprachigen Autoren oder die Vertreter der tschechischen Moderne schrieben mehr Artikel über sich selbst: Kritiken, Berichte und längere Artikel darüber, was in der tschechischen Literatur geschah. Für die Übersetzungen der Werke suchten sie hingegen gerne nach den deutschen Muttersprachlern. Und wo waren diese zu finden? Natürlich in der Nachbarschaft, in den böhmischen Ländern oder in Wien.“

Wo war das Interesse für die tschechische Literatur größer, in Wien und den österreichischen literarischen Zeitschriften oder in Deutschland?

„In Deutschland zu erscheinen war attraktiver, in Wien gelang es aber öfter.“

„Natürlich in Wien, weil Wien die Tschechen kannte. Um die Jahrhundertwende lebten mit 300.000–400.000 Menschen vielleicht mehr Tschechen in Wien als in Prag. Natürlich interessierten sich die meisten von ihnen nicht für die moderne tschechische Literatur. Es fanden sich dort dennoch mehrere Zeitschriften und Zeitungen, die bereit waren, tschechische Literatur zu drucken oder über sie zu informieren – in Deutschland war das eher eine Ausnahme. Trotzdem wollten die tschechischen Autoren lieber in Deutschland publizieren, ob in Buchform oder wenigstens in einer Zeitschrift. Da sie sich früher entwickelte, dominierte die deutsche über die Wiener Moderne. In Deutschland zu erscheinen war attraktiver, in Wien gelang es aber öfter.“

Friedrich Adler  (Foto: Public Domain)
Welche Auswirkungen hatte es, wenn ein Autor – etwa ein Gedicht – in einer deutschen Zeitschrift publizieren konnte. Gab es einen Austausch zwischen den tschechischen und den deutschen Autoren?

„Insbesondere in Prag waren die wechselseitigen Beziehungen oft eine Voraussetzung für die Übersetzung tschechischer Gedichte durch deutschsprachige Autoren. Ohne diese Beziehungen wären viele Vermittlungsversuche nicht vorstellbar. Zum Beispiel der deutschsprachige Prager Dichter Friedrich Adler hat Jaroslav Vrchlický sehr gut übersetzt, und diese Übersetzungen erschienen jahrelang in Zeitschriften. Nach 1918 wurden sie sogar in Buchform herausgegeben. Oder die Vertreter der Gruppe Junges Prag, also die jungen deutschen Prager Autoren, haben die tschechischen Modernisten übersetzt. Eine wichtige Voraussetzung dafür war die Annäherung zwischen den tschechischen Modernisten und den jungen deutschsprachigen Autoren aus Prag.“

„Die Prager deutschen Autoren wollten es zu einer Anthologie der tschechischen Dichtung bringen. Es gelang ihnen aber nicht, genug Interesse bei deutschen Verlagen zu wecken.“

Wir sprechen vor allem über die Veröffentlichung einzelner Gedichte in Zeitschriften. Folgten diesen vielleicht auch manche Bücher?

„Das war das Ziel der Vermittler. Zum Beispiel die Prager deutschen Autoren wollten es zu einer Anthologie der tschechischen Dichtung bringen. Das sind Dichter wie Camill Hoffmann – der später in Wien lebte – und Otokar Winicky, der 1901 selbst als Dichter debütierte. Es gelang ihnen aber nicht, genug Interesse bei deutschen Verlagen zu wecken. Es war sehr schwer, einen Verleger zu finden und ihn davon zu überzeugen, dass die tschechische Literatur einen Ertrag bringen könnte. Da dies natürlich nicht der Fall war, sind Bucherscheinungen sehr selten gewesen.“

Sie haben Vrchlický erwähnt. Gab es bestimmte Autoren, die bei den Vermittlern besonders beliebt waren?

„Natürlich wurde Vrchlický sehr viel übersetzt. Er hatte viele Verehrer, die ihn mal besser und mal schlechter ins Deutsche übertrugen. Daneben war Julius Zeyer seit den 1890er Jahren ein sehr beliebter Autor – vor allem seine Epik und im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts dann auch seine Kurzgeschichten und Romane. Weiter wurde Otokar Březina immer mehr übersetzt. Er war der bekannteste tschechische Lyriker und Vertreter des tschechischen Symbolismus. Recht beliebt war auch Antonín Sova. Und sehr oft wurde Josef Svatopluk Machars Lyrik und Feuilletonistik übersetzt. Er war im deutschen Sprachraum wahrscheinlich der meistübersetzte und auch bekannteste der jüngeren tschechischen Autoren.“