Sechs Dinge, die Sie noch nicht über Pilsen wussten

Martin Kopecký (Foto: Annette Kraus)

Pilsen steht in diesem Jahr im Focus. Man hat es nun schon öfter gehört, die Stadt will sich als moderne Kulturmetropole präsentieren, und löst sich dafür ein wenig vom Image der Bier- und Industriestadt. Dabei helfen kann auch ein Blick zurück. Tobias Weger hat gerade eine Stadtgeschichte Pilsens vorgelegt. Sie enthält natürlich die Erfolgsstories von Urquell und Škoda oder die Befreiung der Stadt durch amerikanische Truppen. Doch der Historiker widmet sich auch weitaus weniger geläufigen Facetten. Oder wussten Sie, dass Pilsen für kurze Zeit ein Kurort war?

1. Der Name

Tobias Weger  (Foto: Archiv des Tschechischen Zentrums München)
Da ist zunächst einmal der Name. Pilsen, oder für deutsche Zungen etwas schwerer auszusprechen: Plzeň. Mit dem weltweiten Siegeszug des Pilsner Urquell hat die Stadt dem untergärigen Bier seinen Namen gegeben. Doch die Stadt war natürlich schon vorher da. Woher ihr Name kommt, darüber wurde lange gestritten, sagt Tobias Weger.

„Es gibt verschiedene Theorien, die durch die frühe Literatur geistern. Vor allem im 19. Jahrhundert hat man sich Gedanken gemacht, denn in dieser Zeit hat sich die tschechische Sprache logisch weiterentwickelt. Es gibt also beispielsweise ein alttschechisches Wort ‚Plze‘. Es bedeutet so viel wie Schnecken. Und da die Stadt Alt-Pilsen auf einem Hügel über einem Tal befand, gab es die Annahme, dass es dort möglicherweise feucht war und dort viele Schnecken waren. Diese Theorie haben Sprachwissenschaftler aber schon im 19. Jahrhundert widerlegt. Gesichert ist aber, dass seit der frühesten Zeit, etwa seit dem 10. Jahrhundert die lateinische Form Pilsna in den Quellen vorkommt. Es handelt sich also mit Sicherheit um eine alte slawische Form, die in den lateinischen Quellen latinisiert wurde.“

2. Alt-Pilsen und Neu-Pilsen

Starý Plzenec  (Foto: Miaow Miaow,  Public Domain)
Im 10. Jahrhundert liegen die Ursprünge von Pilsen. Doch sie finden sich nicht am Ort des heutigen Pilsen, sondern in dem erwähnten Alt-Pilsen. Gibt es also zwei Pilsen?

„Die Stadt wurde verlagert. Zunächst wurde Alt-Pilsen gegründet, etwa 15 bis 20 Kilometer vom heutigen Pilsen entfernt. Heute heißt der Ort Stary Plzenec. Es war eine Burgsiedlung auf einer Anhöhe über einem Tal. Wie archäologische Funde ergeben haben war das war eine recht weit entwickelte Stadt, mit mehreren Kirchen und einem Herzogshof. Das heißt, es war in der Frühzeit der tschechischen Staatsbildung sicherlich eine der Herzogsresidenzen. Sie befand sich an einem strategisch wichtigen Punkt, auf halber Strecke zwischen Prag und der Grenze nach Westen, nach Bayern und Franken und lag auch an wichtigen Handelsrouten. Vor allem in den späteren Jahrhunderten wurde die Verbindung Prag-Nürnberg sehr wichtig, und Pilsen konnte davon als Handelsstadt stark profitieren.“

König Václav / Wenzel II.
Alt-Pilsen verlor schließlich an Bedeutung, um 1295 entstand das neue Pilsen im Tal. Die Initiative dafür ging vom böhmischen König Václav II. aus. Es entstand eine großzügig bemessene Königsstadt. „Eine westböhmische Metropole mit starken Verflechtungen“– so beschreibt Tobias Weger die Stadt im ausgehenden Mittelalter an der Schwelle zur Neuzeit. Dies beinhaltet Konflikte genauso wie starke Handelsbeziehungen, die Pilsen bald einen herausragenden Wohlstand bescherten.

3. Das erste Buch auf Tschechisch

Pilsen ist auch der Ort, für den sich das älteste Buch in tschechischer Sprache nachweisen lässt; im ausgehenden 15. Jahrhunder fertigte ein anonymer Drucker die „Kronika trojanská“.

„Eines der nächsten gedruckten Bücher war bereits ein deutsch-tschechischer Sprachführer mit Mustersätzen wie ‚Wo kann man denn hier übernachten?‘. Nur eben in der Sprache des 16. Jahrhunderts, also wesentlich geschraubter. Auch das damalige Tschechisch ist nicht mit dem heutigen zu vergleichen. Aber es ist interessant, dass so ein kleines Handbuch damals schon hergestellt wurde, um die Verständigung und die Kommunikation zu ermöglichen. Das ist auch ein Beispiel für friedlichen Austausch zwischen den Nationalitäten.“

Der deutsche Titel des Buches von 1534 lautet „Ein kurtz unterweysung beyder sprach Deutsch und Behemisch zu lernen und reden. Den behemen deutsch und den deutschen behemisch.“

4. Vom Deutschen zum Tschechischen

Karel Klostermann
Noch im Mittelalter war der deutsche Bevölkerungsanteil relativ hoch – doch das änderte sich unter dem Einfluss der Landesherrschaft. Viele Deutsche wechselten die Sprache, und viele Pilsener tragen aus diesem Grund noch heute sehr deutsch klingende Nachnamen. Ein berühmter Einwohner der Stadt war der Dichter Karel Klostermann.

„Klostermann ist insofern besonders interessant, weil er im 19. Jahrhundert ganz bewusst den Sprachwechsel vollzieht. Eigentlich kommt er aus einer deutschsprachigen Familie aus dem Böhmerwald. Doch er kommt als Lehrer nach Pilsen und beschließt in diesem im 19. Jahrhundert überwiegend tschechischen Sprachmilieu, dass es sinnvoll ist, auf Tschechisch zu schreiben. Von vielen seiner deutschen Landsleute wird ihm das übelgenommen, er ist Anfeindungen ausgesetzt. Gegen diese hat er sich in einem meiner Meinung nach sehr ergreifenden Brief zur Wehr gesetzt. Als Quelle findet er sich darum nun auch in meinem Buch.“

5. Kurbad Pilsen

Martin Kopecký  (Foto: Annette Kraus)
Ein weiterer berühmter Pilsener, der noch vor Klostermann großen Einfluss auf die Stadt ausübte, war Martin Kopecký. Von 1828 bis 1850 wirkte er in Pilsen als Bürgermeister. Seine Vision von Pilsen lässt sich kaum noch mit dem heutigen Stadtbild in Einklang bringen.

„Er versuchte aus der Stadt einen Badeort zu machen. Man fand tatsächlich am Stadtrand eine Quelle, und dort erbaute er dann ein Kurzentrum. Doch die Quelle versiegte nach ein paar Jahren, und so ging alles wieder unter. Doch bis heute hat er im Stadtbild Spuren hinterlassen: Mit einer Grünanlage, die um die Altstadt herumführt. In dieser Zeit verschwanden die Wallanlagen wie in so vielen europäischen Städten. Sie hatten keine militärische Bedeutung mehr. Man war der Meinung, dass sie die Stadtentwicklung einengen und hat sie niedergerissen. So entstand dort die Parkanlage, und das ist bis heute vielleicht das schönste Zeugnis der Herrschaft dieses sehr engagierten Bürgermeisters. Darüber hinaus war er aber auch im kulturellen Bereich sehr aktiv, hat ein Theater gebaut und das Schulwesen sehr gefördert.“

Škoda-Werke  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Auf Kopecký folgte der wirtschaftliche Aufschwung Pilsens. Škoda kam, und mit ihm noch viele weitere Industrielle. Sie setzten eine Entwicklung in Gang, von der Pilsen bis heute zehrt. Von der Ausnahmestellung zeugt auch die Tatsache, dass die von den Deutschen besetzte Stadt von 1942 bis 1945 insgesamt elf Bombenangriffen ausgesetzt war. 6.777 Häuser wurden zerstört, Zielscheibe war aber die Rüstungsproduktion, und dabei insbesondere die Škoda-Werke.

6. Aufstand gegen das kommunistische Regime

Proteste in Pilsen 1953 | Foto: Archiv des Staatlichen Bezirksarchivs Pilsen
Während des kommunistischen Regimes ereignete sich schließlich in Pilsen ein Aufstand, dessen Anfänge wiederum in den Škoda-Werken lagen. Auslöser war der Beschluss der Kommunisten zur Währungsreform im Jahr 1953, die das Ersparte der Bevölkerung über Nacht wertlos machte.

„Dies und noch weitere Faktoren, wie Mangelwirtschaft und Unzufriedenheit über politische Repression – man darf nicht vergessen, dass es die Hochzeit des Stalinismus war – führte dazu, dass sich 1953 ein spontaner Streik entwickelte, zunächst in den Skoda-Werken. Die Arbeiter verweigerten morgens die Arbeit und zogen in die Innenstadt, die Arbeiter anderer Fabriken schlossen sich an. Es kam zu einem einen Tag währenden Aufstand, dabei wurde zum Beispiel auch das Rathaus besetzt. Man warf die Symbole der kommunistischen Macht aus dem Fenster und hängte dort demonstrativ wieder die Portraits von Edvard Benes und Tomas Masaryk auf. Der Aufstand scheiterte schlussendlich, weil sich die Kommunisten ihres Repräsentationsapparates bedienten und den Aufstand niederwarfen. Als Akt der Rache folgte das Einschmelzen einer großen Masaryk-Statue, die bereits aus der Zwischenkriegszeit datierte. Der war ja ein Symbol für die demokratische Tschechoslowakei, und diese Erinnerung wurde während des Kommunismus natürlich nicht hochgehalten.“

Pilsen  (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prag)
Das Aufbegehren vom 1. Juni 1953 blieb nicht ohne Folgen. Hunderte Menschen wurden verhaftet, 331 wurden verurteilt. Heute sind die Geschehnisse vor allem in der Erinnerung der lokalen Bevölkerung präsent. Tobias Weger setzt seine Reise fort bis in die Gegenwart und streift natürlich auch die heldenhafte Rückkehr der amerikanischen Befreier ins offizielle Gedächtnis der Stadt. Seine Stadtgeschichte gibt einen unterhaltsamen und umfassenden Überblick über mehr als 1000 Jahre Pilsen. Anders als in diesem Beitrag findet sich dort natürlich auch alles zu Pilsner Braukunst, Škoda und sogar zum aktuellen Jahr der Kulturhauptstadt.