Josef Štemberka – der letzte Priester von Lidice

Josef Štemberka (Foto: Wikipedia / public domain)

Am 10. Juni 1942 zerstörten die Nazis Lidice, eine mittelböhmische Gemeinde unweit von Prag. Alle Männer wurden vor Ort erschossen, Frauen und Kinder in Konzentrationslager verschleppt und größtenteils auch ermordet. Hinter dieser kurzen Zusammenfassung verbergen sich die Schicksale einzelner Menschen, die Historiker bringen sie auch Jahrzehnte nach dem tragischen Ereignis noch ans Licht. Dazu gehört auch die Lebensgeschichte des letzten Priesters von Lidice. Er hieß Josef Štemberka, die katholische Kirche könnte ihn künftig sogar heiligsprechen.

Horáks Bauernhof,  Lidice am 10. Juni 1942  (Foto: ČT24)
Der Name Lidice ist noch während des Zweiten Weltkrieges zu einem Symbol geworden für die Brutalität der Nationalsozialisten – und das für alle Welt. Das Regime von Adolf Hitler übte in dem Dorf Vergeltung für das Attentat auf den Stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich. Die Nazis machten die böhmische Gemeinde dem Erdboden gleich, erschossen alle männlichen Bewohner ab 15 Jahre, ermordeten die Frauen und Kinder im KZ oder ließen Letztere auch „umerziehen“. Die Wahl fiel auf Lidice, weil die Bewohner des Ortes mit den Attentätern in Kontakt gewesen sein sollen. Die Spur war letztlich falsch, trotzdem wollten die Besatzer ihre Racheaktion nicht aufschieben.

Lidice hatte vor dem Zweiten Weltkrieg knapp 500 Bewohner, viele von ihnen waren in den Fabriken von Kladno und Slaný beschäftigt. Obwohl in der Gegend die Sozialdemokraten und Kommunisten großen Einfluss hatten, waren etwa drei Viertel der Bewohner von Lidice katholischen Glaubens. Ihr geistiger Hirt Josef Štemberka war seit 1909 in der Gemeinde tätig. Eduard Stehlík ist Historiker am Institut für Militärgeschichte in Prag:

Eduard Stehlík  (Foto: Archiv Armada ČR)
„Josef Štemberka war eine interessante Persönlichkeit, die auf viele Jahre sein Leben mit Lidice verbunden hat. Er kümmerte sich nicht nur um die Menschen vor Ort, sondern auch um die Bewohner der umliegenden Dörfer. Die herrliche und gut gepflegte Martinkirche war eine Dominante in der weiten Umgebung. Laut mehreren Quellen war Josef Štemberka bei den Menschen sehr beliebt, er half den Armen – und das nicht nur mit Geld, sondern auch im Kontakt mit den Behörden. Er selbst lebte aber bescheiden, fast asketisch, er stammte aus einer sehr armen Familie. Wie es damals üblich war, kannte der Priester praktisch alle seine Schafe persönlich. Er taufte die Kinder dort, traute die Verlobten und beerdigte die Verstorbenen.“

Patriotische Predigten in der Sudetenkrise

Antonie Škrdlová war Štemberkas Wirtin. Sie überlebte als eine der wenigen Frauen die Vernichtung Lidices. Später sagte sie, der Priester habe ein besonders gutes Verhältnis zu Kindern gehabt. Er soll sie immer in seinen großen Pfarrgarten eingeladen haben, damit sie dort Obst und Nüsse pflücken konnten. Die Kinder seien auch begeistert gewesen, wenn der Priester Brotleibe und Honiggläser in die Religionsstunden mitbrachte. Josef Štemberka sei nämlich begeisterter Imker und Gärtner gewesen. Vor dem Zweiten Weltkrieg soll er eine Menge Kinderkleidung gekauft haben, um diese nach Bedarf an arme Familien zu verteilen. Darüber hinaus habe er sich während der sogenannten Sudetenkrise als Patriot erwiesen, sagt Eduard Stehlík.

Antonie Škrdlová  (Foto: Občanský spolek Lidice / public domain)
„Seine Predigten aus der Zeit des Münchner Abkommens im Herbst 1938 sind erhalten, damals spitzte sich der Konflikt mit Deutschland zu. Als die tschechoslowakische Regierung vor der Unterzeichnung des Abkommens die Mobilmachung erklärte, segnete der Priester die Männer, die eingezogen wurden. Nachdem Prag gezwungen war, die Sudetengebiete an Deutschland abzutreten, beruhigte er die Gemüter und sprach den enttäuschten Menschen Mut zu. Den Patriotismus hatte er praktisch geerbt: Sein Bruder, ein anerkannter Anwalt aus Rychnov nad Kněžnou (Reichenau an der Knieschna, Anm. d. Red.), war während der k. u k. Monarchie Landtagsabgeordneter und hatte sich für die Interesse der Tschechen eingesetzt, wo er nur konnte.“

1942 war František Štemberka bereits 73 Jahre alt. Als die Nazis die Gemeinde überfielen, hätte er dort eigentlich nicht mehr als Priester tätig sein sollen. Er hatte sich entschied, die Stelle in Lidice aufzugeben und in seinen Heimatort Pecka in Ostböhmen zu ziehen. Dort wollte er sein Geburtshaus umbauen und mit seinen drei ledigen Schwestern zusammenleben. Seine Schwestern hatten nicht heiraten können, weil sie von ihren armen Eltern keine Mitgift bekamen.

„Die Männer bleiben hier, die Frauen in die Schule“

Der neue Priester für Lidice war also schon ernannt, dieser bat aber, die Übergabe der Stelle um ein paar Tage zu verschieben. Und das wurde Štemberka zum Verhängnis. Antonie Škrdlová, die mit dem Priester täglich in Kontakt stand, beschrieb 1946 die Ereignisse in einem Zeitungsinterview. Frei übersetzt sagte sie:

Josef Štemberka  (Foto: Wikipedia / public domain)
„Zu Fronleichnam am 4. Juni 1942 kam die Gestapo nach Lidice, was große Aufregung verursachte. Sie verhaftete bei den Stříbrnýs und Horáks, dann gingen die Polizisten von Haus zu Haus und durchsuchten jedes. Bei uns auf dem Pfarramt warfen sie alles hinaus und schrien, was wir wo versteckt hätten. Nachdem sie weggegangen waren, atmeten wir auf, aber nur kurz. Am 9. Juni war unser Pfarrer in Kladno, um dort eine Deutschprüfung abzulegen. Er kehrte erst am Abend zurück. Etwa um halb elf waren Schüsse und Schreie zu hören. Ich öffnete die Tür. Eine Gruppe von SS Männer drangen ins Haus und trugen alles fort: die Matrikel, gottesdienstliche Gegenstände, alles. Danach mussten wir zu Horáks Bauernhof gehen, wo wir bis etwa halb drei standen. Dann kam der Befehl: Die Männer bleiben hier, die Frauen in die Schule.“

Was danach folgte, ist allgemein bekannt. Die letzten Stunden der Männer von Lidice – und auch von Josef Štemberka – lassen sich jedoch nur schwer rekonstruieren. Dazu gibt es nur Aussagen damaliger SS-Männer aus der Zeit nach dem Krieg – und diese lassen sich nicht überprüfen. In einem stimmen sie jedoch überein: dass die Männer ruhig und gelassen vor die Hinrichtungstruppe traten und mit einer einzigen Ausnahme nicht um Gnade baten. Eines der Gestapo-Mitglieder behauptete vor einem tschechoslowakischen Gericht sogar ironisch, Štemberka habe gute Arbeit geleistet, weil die Männer wie die Lämmer zur Schlachtbank gingen und es keine Verzögerungen gab. Der Priester muss den Menschen aus Lidice wohl wirklich die ganze Zeit über behilflich gewesen sein, meint Stehlík.

„Laut unterschiedlichen Zeugnissen bemühte sich Pater Štemberka, die Menschen zu beruhigen und die Lage zu entspannen. Dabei hat er wissen müssen, dass auch er das Schicksal seiner Anvertrauten teilen würde. Als die Hinrichtungen begannen, machte er, was ein Geistlicher machen sollte: Er betete zusammen mit den Männern, nahm ihnen die Beichte ab und segnete sie. So bereitete er sie auf den letzten Weg vor.“

Heiligsprechung eingeleitet

Lidice | Foto: ČT24
Die Hinrichtungen wurden nach dem Alphabet vorgenommen. Das heißt, Josef Štemberka wurde als einer der Letzten erschossen. In einigen Büchern und Artikeln ist zu lesen, die Nazis hätten ihm die Freilassung angeboten, er habe aber abgelehnt. Das lässt sich heute jedoch nicht mehr nachprüfen, und die Historiker sind auch eher skeptisch. Die Behauptung stammt aus den Verhören der Mörder von Lidice, möglicherweise wollten sie etwas Menschlichkeit vorgaukeln.

Die katholische Kirche hat sich vor kurzem entschieden, die Heiligsprechung von Josef Štemberka in Gang zu setzen. Vorhandene Dokumente sollen neu geprüft und noch lebende Zeitzeugen wieder befragt werden. Die endgültige Entscheidung fällt in Rom, aber das kann viele Jahre dauern. Für diejenigen, die Lidice überlebt haben, ist Štemberka auch ohne kirchliches Zutun heilig.