Josef Pekař und die Suche nach dem Sinn der tschechischen Geschichte

Josef Pekař

Er galt als größter tschechischer Historiker des 20. Jahrhunderts. In der Zwischenkriegszeit wurde er geehrt, in kommunistischer Zeit hingegen verachtet und in den 1990er Jahren wieder ans Licht gebracht. Die Rede ist von Josef Pekař, seit seiner Geburt sind vor kurzem 145 Jahre vergangen.

Josef Pekař
Die Geschichtslehre müsse eine wissenschaftliche Grundlage haben, aber der Historiker dürfe kein neutraler Beschreiber der Ereignisse sein. Er sei verpflichtet, zu ihnen eine eigene Position einzunehmen. So lässt sich das Credo von Josef Pekař in Kürze zusammenfassen. Der promovierte Historiker wurde 1901 Professor an der Prager Karl-Ferdinand-Universität. Zunächst widmete er sich der Geschichte des Böhmischen Paradieses, seiner Heimatregion rund um Turnov / Turnau. Wenig später ging er zu den Hauptthemen der böhmischen Geschichte über. Unter anderem schrieb er „Die Geschichte unseres Reiches“, die 1914 von den k. u. k. Behörden als offizielles Lehrbuch anerkannt wurde. Unter dem neuen Titel „Die Geschichte der Tschechoslowakei“ wurde dieses Lehrbuch bis 1950 auch in der Tschechoslowakei verwendet.

Doubravka Olšáková  (Foto: ČT24)
Doch Pekařs Ansichten waren nicht allseits akzeptiert. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand er im Widerspruch zu Tomáš G. Masaryk, damals Professor der Soziologie und später der erste Präsident der Tschechoslowakei. Auch Masaryk war der Ansicht, die Geschichte müsse interpretiert werden. Wie dies aber geschehen solle, darüber führten beide Männer einen inbrünstigen Streit. Doubravka Olšáková ist Historikerin an der Akademie der Wissenschaften in Prag:

Hubert Gordon Schauer
„Die Diskussion drehte sich um die Stellung der tschechischen Nation in Europa, das ging einher mit den Bemühungen der Tschechen, mehr Kompetenzen innerhalb der Österreichisch-ungarischen Monarchie zu erhalten. Die politische Elite beschäftigte sich mit Fragen wie zum Beispiel: Wodurch sind die Tschechen wichtig für Europa? Womit haben sie Europa bereichert und womit sollen sie es künftig bereichern? Diese Themen schnitt erstmals der deutsch-tschechische Publizist und Literaturkritiker Hubert Gordon Schauer an. 1886 stellte er in einem Zeitungsartikel die Frage, ob die tschechische Gesellschaft ausreichend groß und stark sei, um eine selbständige Kultur zu entwickeln, oder ob es für die Tschechen nicht besser gewesen wäre, sich im Rahmen der deutschen Kultur zu realisieren. Unter den Tschechen brach darüber eine heftige Debatte los, sie nahmen dies als Herausforderung, über ihre Stellung und künftige Orientierung nachzudenken.“

T. G. Masaryk | Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks
Im Rahmen dieser Debatte entwickelten sich zwei Hauptkonzepte – sie wurden von Josef Pekař und T. G. Masaryk repräsentiert. Masaryk war der Überzeugung, das Ziel der tschechischen Geschichte sei die Humanität. Er betrachtete das Hussitentum als ersten Schritt in dieser Richtung und den aufkommenden nationalen Patriotismus des 19. Jahrhunderts als seine Fortsetzung. Pekař sträubte sich hingegen, die Geschichte in dieser Weise zu ideologisieren. Beide Männer stritten sich auch um die Interpretation der Zeit des Barock, das heißt der Rekatholisierung in Böhmen nach der Schlacht am Weißen Berg von 1620. Masaryk hielt sie wie andere protestantische Denker für eine Zeit des Niedergangs, ja des Unglücks für die Tschechen. Pekař entgegnete, die Barockzeit sei eine eigenartige Epoche gewesen, die den Charakter der tschechischen Nation sowohl im Guten, als auch im Bösen geprägt haben soll.

In politischer Hinsicht war Pekař eindeutig konservativ, jeder revolutionäre Gedanke war ihm fremd. Die multikulturelle Monarchie hielt er für das Umfeld, in dem die Tschechen ihre Fähigkeiten am besten entwickeln konnten. In der Tageszeitung „Národní politika“ (Nationale Politik) schrieb er 1912:

„Schon längere Zeit streben die kleinen Völker nach ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Emanzipation. Sie glauben, dadurch auch ihre politische Bedeutung zu stärken. Die Tschechen haben bereits vieles in der Industrie, im Handel und im Geldwesen geleistet, trotzdem bleibt für sie noch viel zu tun, um die Deutschen einzuholen. Auch wenn der umfassende Wettkampf unserer Nationen den Anschein eines Zusammenbruchs unseres Reiches haben könnte, handelt es sich um einen unverzichtbaren Antrieb zum Fortschritt für beide Völker. Wird dieser Wettkampf friedlich verlaufen, dann wird die nationale Vielfalt unseres Reiches eine dauerhafte Grundlage für seine Weiterentwicklung bilden.“

Jan Hus
Den Zerfall der Monarchie und die Entstehung der Tschechoslowakei 1918 nahm Pekař ohne größere Emotionen zur Kenntnis. Masaryks Interpretation der Geschichte wurde beinahe zur offiziellen Staatsdoktrin, das Hussitentum galt ab da in der tschechischen Gesellschaft als bedeutendste geschichtliche Epoche. Anlässlich des Jan-Hus-Jubiläums 1925 ließ Masaryk sogar auf der Prager Burg die hussitische Fahne hissen. Pekař widersprach, die hussitische Bewegung sei von Kriegen und Plünderungen geprägt gewesen und habe zu einer Katastrophe geführt, die die böhmischen Länder um Jahrzehnte zurückgeworfen habe. Jan Hus selbst war jedoch in Pekařs Augen ein bedeutender religiöser Reformator seiner Zeit, betont Doubravka Olšáková:

„Pekař legte Wert darauf, sich immer in die entsprechende Geschichtsepoche hineinzuversetzen und aus ihrer Sicht die Ereignisse zu interpretieren. Hus galt ihm also als eifriger Katholik, der die Kirche reformieren wollte. Was nach seiner Verbrennung 1415 kam, vor allem der bewaffnete Kampf der Hussiten gegen die Kirche, das hatte laut Pekař kaum mehr etwas mit Hus´ Zielen gemein. Wie Pekař in seinem vierbändigen Werk ‚Jan Žižka und seine Zeit‘ schreibt, seien die radikalen Versuche, in den hussitischen Städten die Demokratie durchzusetzen, mit der damaligen Mentalität nicht vereinbar gewesen, deswegen hätten sie auch scheitern müssen. Trotzdem bedeutete das Hussitentum laut Pekař einen großen Umbruch, der die Gesellschaft tief verändert hat. Er zieht da eine Parallele zur Französische Revolution.“

Hussiten
Mit dem Hussitentum beschäftigte sich Pekař vor allem in der Zwischenkriegszeit, offensichtlich als Reaktion auf die allgemeine Betonung dieses Themas. Man sagt, er habe sich dadurch auch mit der Entstehung der Tschechoslowakei abgefunden.

Trotz der wissenschaftlichen Kontroversen zeitigten sich Josef Pekař und Staatspräsident Masaryk großen Respekt. Sie trafen sich zu verschiedenen Gelegenheiten und gingen nie zu persönlichen Attacken über. Als Masaryk 1935 seinen 85. Geburtstag feierte, hielt sogar Pekař eine festliche Rede, in der er die kulturellen und staatlichen Verdienste des Präsidenten hervorhob. Im selben Jahr hätte Pekař sogar gegen Edvard Beneš zum Staatsoberhaupt kandidieren können. Damit ist eine Legende verbunden.

Prager Burg  (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prag)
„Einmal soll Pekař in einen Hörsaal der Prager Karlsuniversität getreten sein, von dem sich ein herrlicher Blick auf den Hradschin eröffnete. Er soll sich gesetzt, eine Pfeife angezündet und mit ausgestrecktem Arm in Richtung Prager Burg gezeigt haben: ‚Man fordert mich also auf, dorthin zu kandidieren.‘ Pekař hat wahrscheinlich das Angebot ernstlich in Erwägung gezogen, schließlich lehnte er es aber ab – erstens, weil das Angebot von Rechtsparteien gekommen war, und zweitens, weil er gegen Masaryks Kandidat hätte antreten müssen. Darüber hinaus fühlte er sich nicht mehr genügend fit dafür. Er lehnte also das Angebot ab.“

Im Januar 1937 stirbt Josef Pekař. Masaryk lässt einen Kranz anfertigen und darauf schreiben: „Sie waren ein guter Mensch“. Ein paar Monate danach ist auch der berühmteste Opponent des Historikers tot. Doch in kommunistischer Zeit werden beide Männer auf die sogenannte „schwarze Liste“ gesetzt. Die kommunistischen Historiker erfinden sogar den Begriff „Pekařismus“, um die prominente Persönlichkeit der demokratischen Ära zu diskreditieren. Unter anderem heißt es, Pekař sei ein Rechtsausleger gewesen, ein Bewunderer der Zeit der Finsternis, wie die Barockzeit bezeichnet wird. Sein Name verschwindet aus allen Lehrbüchern, seine Bücher werden weggeschlossen. Erst nach der Samtenen Revolution von 1989 findet Josef Pekař wieder die Würdigung, die ihm gerecht ist.