Graf Coudenhove Kalergi, die Paneuropa-Idee und die Tschechoslowakei

Graf Richard von Coudenhove-Kalergi

Die europäische Einigung ist eine alte Idee. Verwirklicht werden konnte sie jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Einigung knüpft an das so genannte Pan-Europa-Konzept an. Dieses Konzept hatte in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Graf Richard von Coudenhove-Kalergi entwickelt – ein Europäer mit tschechoslowakischer Staatsbürgerschaft.

Graf Richard von Coudenhove-Kalergi
Die Gräuel und die Millionen Opfer des Ersten Weltkriegs erschütterten alle betroffenen Nationen: Starke Zweifel kamen auf an der Idee, dass der technische Fortschritt auch bessere Menschen heranziehen könnte. Vielen wurde bewusst, dass eine neue politische Ordnung in Europa notwendig war. Die Friedenskonferenz von Versailles brachte indes nicht die erhoffte Lösung - für die besiegten Staaten blieb sie inakzeptabel. Einer der wenigen, die auf die Risiken dieser Misslage aufmerksam machten, war Richard Nikolaus Graf von Coudenhove-Kalergi.

Der Graf wurde 1894 in Tokio als Sohn eines österreichischen Diplomaten und einer Japanerin geboren. Die Kenntnis sowohl christlicher, als auch buddhistischer Traditionen beeinflusste ihn sehr. In seinen Memoiren schrieb Richard von Coudenhove-Kalergi, dass er auch deswegen nicht zwischen Tschechen, Deutschen, Franzosen oder Österreichern unterschied.

Noch vor dem Ersten Weltkrieg siedelte die Familie auf das Schloss Ronsberg / Poběžovice in Westböhmen um. Der Vater von Richard schuf hier eine außergewöhnliche multinationale Umgebung: Die Lehrer der Kinder kamen aus England und Frankreich, der Sekretär war ein Bayer, der Generaldirektor Tscheche, der Kammerdiener Armenier und häufiger Gast war unter anderem der Pilsner Rabbi. Auch dies beeinflusste den jungen Coudenhove-Kalergi. Nach dem Studium der Philosophie und Geschichte in Wien sympathisierte er eine Zeit lang mit der pazifistischen Bewegung, doch dann wandte er sich enttäuscht von ihr ab. Die politische Entwicklung führte seiner Meinung nach auf einen neuen militärischen Konflikt zu, Richard von Coudenhove-Kalergi zog sich auf Schloss Würting in Oberösterreich zurück. Hier begann er sein grundlegendes Werk zu schreiben, sagt der Soziologe und Philosoph Tomáš Halík:

„1923 erschien in Wien sein Buch ´Pan-Europa´. Es war inspiriert vom Schriftstück „Pan-Amerika“ des deutschen Publizisten Alfred Fried. Kalergi äußerte die Überzeugung, dass die Vereinigung von Europa die einzige Möglichkeit sei, allen Nationen den Frieden zu sichern. Nur so könnte sich endlich das Potenzial aller Völker voll entwickeln und das Lebensniveau steigen. Er warnte aber vor der russischen Gefahr. Russland würde versuchen Europa zu beherrschen, sobald es dazu Gelegenheit bekomme, schrieb er. Seine Hauptidee war jedoch die Existenz eines einzigen europäischen Volkes, aus dessen Stamm viele Äste aufwachsen. Die Nationalisten sahen laut Kalergi nur Äste, die sie für Bäume hielten, denn sie seien nicht fähig, den Baumstamm zu erkennen. Deshalb hielt er es für nötig, vom Nationalismus zum europäischen Patriotismus überzugehen. Zu diesem Thema hielt er fleißig Vorträge in vielen Hauptstädten Europas. 1926 gründete er in Wien die so genannte Paneuropäische Union und im selben Jahr eröffnete die Organisation ein Büro in Prag. Gerade in der Tschechoslowakei fand Richard von Coudenhove-Kalergi große Unterstützung für seine Ideen. Sie begeisterten sowohl Präsident Tomáš Masaryk, als auch Außenminister Edvard Beneš.“

Mit Masaryk, dem ersten Präsidenten der neu gegründeten Tschechoslowakei, verband Kalergi ab den zwanziger Jahren eine enge Beziehung. Der Graf nahm die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft an und mindestens einmal pro Jahr besuchte er den Präsidenten in seiner Residenz. Das öffnete Coudenhove-Kalergi große Möglichkeiten. Außenminister Edvard Beneš ließ ihm einen diplomatischen Reisepass ausstellen und vermittelte Treffen mit verschiedenen einflussreichen Politikern in Europa. Beneš schrieb auch das Vorwort zur tschechischen Ausgabe des Buches „Pan-Europa“, dort bezeichnete er den Autor als einen der größten Denker seiner Zeit. Denn die Ideen von Kalergi waren sehr mutig:

„Kalergi legte großen Wert auf die Entstehung gemeinsamer europäischer Symbole. Er schlug zum Beispiel eine europäische Fahne, eine Hymne, ein Parlament, eine Armee, eine Verfassung, eine Volkszählung, eine gemeinsame Außen- und Innenpolitik und sogar eine einheitliche europäische Währung und Zentralbank vor. Er beabsichtigte auch eine europäische Akademie zu gründen, die Konzepte für die Umsetzung dieser Dinge erarbeiten sollte. Als Sitz dieser Akademie schlug er Prag vor. Das heißt, viele Sachen, die erst heute oft kompliziert realisiert werden, stammen aus dem Kopf dieses Denkers“, so Tomáš Halík.

Die paneuropäische Idee rief breites Echo unter den wichtigsten Politikern der Zeit hervor. Die österreichische Regierung ermöglichte der Bewegung, ihren Sitz in der Wiener Hofburg zu errichten. Am mutigsten erwies sich der französische Außenminister Aristide Briand, er wurde sogar ehrenamtlicher Vorsitzender von Paneuropa. 1930 stellte Briand im Völkerbund den Plan einer europäischen Föderation vor, die deutlich die Ziele der paneuropäischen Bewegung verfolgte. Seine Initiative scheiterte vor allem wegen der Einwände aus Großbritannien, Italien und Deutschland.

Nach diesem Scheitern beschränkte Graf von Coudenhove-Kalergi seine Aktivitäten auf Frankreich, Österreich und die Tschechoslowakei. Diese Länder unterstützten die paneuropäische Bewegung auch finanziell. Als Hitler 1933 an die Macht kam, wurde eine gemeinsame Politik der demokratischen Staaten noch dringender. Masaryk und Kalergi blieben in engem Kontakt, erklärt Tomáš Halík:

„Bei einem Gespräch mit österreichischem Botschafter in der Tschechoslowakei äußerte Masaryk die Vorstellung, dass sich beide Staaten gemeinsam noch mit Ungarn wieder vereinigen sollten und einen neuen Staatenbund bilden. Österreich war offen für diesen Vorschlag – Bundeskanzler Dollfuß und auch sein Nachfolger Schuschnigg übernahmen die Schirmherrschaft über die Paneuropa-Bewegung. Ungarn hatte jedoch andere Pläne. Coudenhove-Kalergi erinnerte in seinen Memoiren daran, wie ausführlich Masaryk ihm diese Sache schilderte. ´Es wäre schön, wenn Sie George Washington der Vereinigten Staaten Europas werden könnten´, bemerkte Kalergi. ´Dazu ist die Zeit noch nicht gekommen´, erwiderte der Präsident.“

Hitlers Einmarsch in Österreich und die Zerschlagung der Tschechoslowakei setzten im Jahr 1938 nicht nur Kalergis Ideen ein definitives Ende. Auch wurde das Zentrum von Paneuropa in der Wiener Hofburg geschlossen und die Familie flüchtete auf gefährlichem Weg über mehrere Staaten nach Amerika. Nach dem Krieg knüpfte Kalergi jedoch an seine frühere Tätigkeit an. 1947 gründete er die Europäische Parlamentarier-Union, aus der sich später das Europäische Parlament entwickelte.

In Tschechien ist Richard von Coudenhove-Kalergi nur in akademischen Kreisen bekannt. Obwohl er einer der größten politischen Denker des 20. Jahrhunderts war und dazu noch mit der Tschechoslowakei eng verbunden war, steht sein Namen nicht in den Geschichtsbüchern hierzulande. Eine Anerkennung dieser Persönlichkeit bleibt für die Tschechen eine Aufgabe für die Zukunft.