Gescheiterte europäische Eingliederung: tschechoslowakische Außenpolitik 1918 bis 1938

Zeměpisná mapa Československa v letech 1918 - 1938, foto: Vojenský zeměpisný ústav v Praze (volné dílo)

1938 wurde die Tschechoslowakei von ihren Verbündeten Frankreich und Großbritannien verraten – beide Staaten stimmten der Abtretung der Sudetengebiete an Hitlerdeutschland zu. So verstehen bis heute die Tschechen die damalige Lage rund um die Unterzeichnung des Münchner Abkommens. Wie fest war also das Bündnis mit den genannten Staaten? Worauf beruhte die tschechoslowakische Außenpolitik in der Zwischenkriegszeit? Wodurch wurde das Verhältnis mit den Nachbarländern geprägt?

Konferenz in Trianon
Die Tschechoslowakei entstand 1918 als einer der Nachfolgestaaten der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Der Anfang war nicht einfach: Das neue Land musste praktisch sofort seine Grenzen mit Waffen verteidigen, denn fast alle Nachbarstaaten erhoben Gebietsansprüche an die Tschechoslowakei. Die endgültigen Grenzen wurden bei den internationalen Konferenzen 1919 in Paris und 1920 in Trianon festgelegt. Zugleich wollte die tschechoslowakische Regierung danach dringend die Stellung des Staates in Europa fest verankern. Das war die Hauptaufgabe von Außenminister Edvard Beneš, einem engen Mitarbeiter des ersten Staatspräsidenten Tomáš G. Masaryk. Beide Männer waren schon während des Ersten Weltkriegs politisch aktiv gewesen, um internationale Unterstützung für die Gründung der Tschechoslowakei zu gewinnen. „Ohne Beneš hätten wir die Republik nicht“, soll Masaryk erklärt haben, um dessen Verdienste hervorzuheben. Als Außenminister definierte Beneš drei Säulen, sagt Historiker Petr Koura von der Prager Karlsuniversität.

Edvard Beneš
„Die von Beneš formulierte Außenpolitik der Tschechoslowakei bestand aus einer Hinwendung zu Frankreich, zum Völkerbund und zur so genannten Kleinen Entente. Die Beziehungen zu Frankreich waren eine Konstante im Leben von Edvard Beneš. Bereits während seines Studiums in Paris hatte er sich für dieses Land begeistert, und nach der Pariser Friedenskonferenz von 1919 pflegte er enge diplomatische Beziehungen mit dieser Großmacht. Frankreich war seiner Meinung nach die Wiege der Demokratie und ein Vorbild für andere Staaten. Die zweite Säule fand er im Völkerbund, dem Vorgänger der heutigen Vereinten Nationen, der den Frieden in Europa garantieren sollte. Beneš half diese Organisation zu gründen und saß viele Jahre lang im Völkerbundsrat. Die dritte Säule von Beneš Außenpolitik war die Kleine Entente, also ein Bündnis der Tschechoslowakei mit Rumänien und Jugoslawien.“

Konferenz der Kleinen Entente. Von links nach rechts: Edvard Beneš,  Nicolae Titulescu und Bogoljub Jevtić  (Foto: Bundesarchiv,  Wikimedia CC BY-SA 3.0 DE)
Die Kleine Entente entstand 1921 mit dem Ziel, die Erneuerung der Habsburger Monarchie zu verhindern, genauso wie den Anschluss Österreichs an Deutschland und vor allem die Expansion von Ungarn. Auf dem Gebiet aller drei Bündnisstaaten befanden sich nämlich große ungarische Minderheiten - und Budapest wollte diese Gebiete unter seinen Einfluss bringen. Die Hauptrolle im Bund spielte die Tschechoslowakei, sie half auch Rumänien und Jugoslawien sich zu bewaffnen. Anfangs unterstützte Frankreich die Organisation, denn über die Tschechoslowakei wollte Paris die Hegemonie in dieser Region erreichen. Ursprünglich sollte Polen das vierte Mitglied der Entente sein, doch wegen des Grenzstreits mit der Tschechoslowakei um das Teschener Schlesien kam es aber nicht dazu.

Kleine Entente  (Quelle: Wikimedia Free Domain)
Nur wenige Monate nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland trafen die drei Entente-Mächte in Prag zusammen. Bei der Sitzung am 31. Mai 1933 hielt Gastgeber Edvard Beneš eine Rede. Diese ist im Archiv des Tschechischen Rundfunks erhalten:

„Die Sitzung des ständigen Rates der Kleinen Entente ist ein bedeutendes Ereignis. Schon seit 15 Jahren arbeiten unsere drei Länder zusammen, um eine politische Gemeinschaft in Mitteleuropa aufzubauen. Es war eine langsame und mühsame Arbeit, doch war sie zugleich systematisch und konstruktiv. Unser Konzept war nie bloß der Widerstand gegen den einen oder anderen Nachbarn. Es war ein Kampf gegen die Erneuerung der Vorkriegszustände und für ein neues Europa. Nun schließen wir die Vorbereitungsphase ab. Wir unterschreiben einen Organisationspakt, gründen einen ständigen Rat und bilden somit eine höhere Einheit der europäischen Politik. Die westeuropäischen Länder erkennen an, dass gerade in dieser komplizierten politischen Zeit ein wichtiger Schritt zu einem neuen Gleichgewicht im Nachkriegs-Europa getan wurde.“

Maginot-Linie  (Foto: Michel Teiten,  Wikimedia CC-BY-SA-2.5)
Den Optimismus, den Edvard Beneš in seiner Rede verbreitete, bezeichnet Historiker Koura jedoch als realitätsfremd. Frankreich hatte sich damals schon längst von der Kleinen Entente abgewandt und eigentlich auch von der Tschechoslowakei. Die Interessen der Regierung in Paris lagen anderswo, weil die Karten der europäischen Politik neu gemischt wurden.

„Die französische Strategie konzentrierte sich seit 1930 auf die Abwehr eines potenziellen deutschen Angriffs. Es entstand die bekannte Maginot-Linie, ein Bunkersystem zur Verteidigung, obwohl die deutsch-französische Grenze seit 1925 durch die Verträge von Locarno als gesichert galt. Deutschland drohte immer mehr mit einer Expansion, und seit Hitlers Machtergreifung Ende Januar 1933 hatte sich diese Gefahr noch verstärkt. Beneš muss das gespürt haben, wollte aber wahrscheinlich Optimismus vorschützen. Denn damals war eigentlich klar, dass die Kleine Entente kaum noch eine Bedeutung hatte. Insofern war Benešs Rede von 1933 sehr anachronistisch“, so Koura.

Foto: Dmitri Majatski,  Stock.xchng
Jenseits der drei Hauptpfeiler bildeten die Beziehungen zur Sowjetunion ein ganz spezielles Kapitel in der tschechoslowakischen Außenpolitik. In den 1920er Jahren bestanden nur minimale Kontakte zwischen beiden Staaten, die Regierung in Prag lehnte es sogar ab, die Existenz der Sowjetunion de jure anzuerkennen. Doch nach der Weltwirtschaftskrise und mit der Verschärfung der politischen Lage in Mitteleuropa nahm das Interesse für das kommunistische Land immer mehr zu. Besonders nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland drängten die demokratischen Politiker darauf, Moskau für eine Koalition gegen Hitler zu gewinnen. In den 1930er Jahren verbesserte vor allem Frankreich sein Verhältnis zu Moskau, was Edvard Beneš ausgesprochen begrüßte. 1934 erkannte die tschechoslowakische Regierung die Sowjetunion offiziell an, das öffnete den Weg zu einem Bündnisvertrag. Frankreich und die Tschechoslowakei unterschrieben ihre Verträge mit dem Riesenreich im Osten im Jahr 1935 nur im Abstand von zwei Wochen zueinander. So entstand eine neue politische Allianz.

Milan Hodža
Die Außenpolitik der Tschechoslowakei lag in der ganzen Zwischenkriegszeit voll in den Händen von Beneš. Ab und zu wurde der Minister zwar von einigen einheimischen Politikern kritisiert, wirkliche Vorstellungen von einer Alternative zu dessen Politik hatten sie jedoch nicht. Einzig erwähnenswert ist ein Versuch von Milan Hodža, der Agrarier wurde 1935 Regierungschef und neuer Außenminister nach der Wahl von Beneš zum Staatspräsidenten. Dazu Historiker Miroslav Šepták vom tschechischen Nationalarchiv:

„Milan Hodža ging wie Edvard Beneš als Politiker konzeptionell vor. Mitte der 1930er Jahre entwickelte er die Idee, Mitteleuropa neu zu gestalten. Und zwar sollte eine freie Konföderation entstehen, mit zwei Sitzen: im polnischen Danzig und im griechischen Thessaloniki. Den Begriff Mitteleuropa definierte Hodža offensichtlich anders als wir heute. Er verstand darunter den gesamten Raum zwischen Deutschland und Russland. Diesen Raum hielt er nach dem Zerfall von Österreich-Ungarn nicht für stabil beziehungsweise für unfähig, sich der Expansion von Deutschland zu widersetzen.“

Der Hodža-Plan war aber aus mehreren Gründen zum Scheitern verurteilt. Eine Voraussetzung wäre gewesen, dass sich das Verhältnis zwischen der Tschechoslowakei und Polen sowie Ungarn verbessert hätte – dazu kam es aber nicht. Beide Staaten verfolgten ihre eigene Expansionspolitik und sie hielten die Tschechoslowakei eher für ihren Feind, als für ihren Partner. Darüber hinaus interessierten sich die Balkanstaaten für eine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Deutschland, vor allem als Absatzmarkt ihrer landwirtschaftlichen Produkte. Beneš war grundsätzlich nicht gegen die Hodža-Idee, hielt sie aber nicht für realistisch. Er hoffte weiterhin auf gute Kontakte mit Frankreich.

Münchner Abkommen | Foto: Bundesarchiv,  Bild 183-R69173/Wikimedia Commons,  CC BY-SA 1.0
Trotz aller Bemühungen, Verbündete zu finden und so eine drohende Auseinandersetzung mit Deutschland abzuwenden, war die Tschechoslowakei im Krisenjahr 1938 schließlich auf sich alleine gestellt. Frankreich und Großbritannien kamen Hitler entgegen und unterschrieben das Münchner Abkommen. Die Politiker aus London und Paris glaubten, sie könnten mit der Abtretung der Sudetengebiete an Deutschland den Frieden in Europa erhalten. Schon bald mussten sie aber erkennen, welch Irrtum dies war.