Dresseure und Dompteure – Geschichte des Zirkus in Böhmen

Foto: Archiv des Nationalmuseums in Prag

Artisten, Seiltänzer, Clowns, Zauberer, Dompteure, Fakire und Jongleure – sie alle gehören zur sonderbaren Gemeinschaft des Zirkus. Man kann diese Kunst etwas belächeln, doch sie begeistert immer wieder viele Zuschauer, vor allem Kinder. In den Böhmischen Ländern war der Zirkus ein wesentliches kulturelles Phänomen, das auch weder in der Nazi-Zeit noch während des Kommunismus verboten war.

Zirkus von Philip Astley
Das Wort „Zirkus“ leitet sich vom Latein und Altgriechischen her. In der Antike wurden mit „circus“ oder „kirkos“ jene Arenen bezeichnet, in denen Wagenrennen und Tierkämpfe der Gladiatoren stattfanden. Die neuzeitliche Zirkuskunst hat damit allerdings nur noch die Form der Bühne gemeinsam. Als ihre Wiege gilt England, wo Philip Astley ab 1770 öffentlich artistische Dressurstücke zeigte. Später kamen auch Musik, Jongleure und Clowns hinzu. Diese neue Unterhaltung verbreitete sich von England über Frankreich und Deutschland auch nach Böhmen. Hier entwickelte sie sich in zwei Richtungen. Zum einen sollten Adelige und reiche Bürger unterhalten werden. Diese Art Zirkus wurde in Zelten betrieben, und die Tierdressur bildete den Mittelpunkt. Die zweite Art galt als Vergnügen für arme Dörfler und spielte sich im Freien ab. Diese Variante bestand vor allem aus artistischen Kunststücken. Hanuš Jordan ist Historiker am Nationalmuseum Prag:

TV-Serie „Zirkus Humberto“
„Ab der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wurde die Volkspuppenspielerei um artistische Einlagen ergänzt. Dies war ein typisch böhmisches Phänomen. Da es viele Puppenspieler gab, wollten sie sich von der Konkurrenz unterscheiden, deswegen erweiterten sie ihre Auftritte um Artistik, Jongliergeschick, Seiltanz und Zauberstücke. Nur fand dies anstatt in einer Manege unter freiem Himmel statt.“

Das Leben der Menschen rund um den Zirkus hat der Schriftsteller Eduard Bass in den 1940er Jahren den Tschechen nähergebracht. Sein Roman „Zirkus Humberto“ wurde 1988 als TV-Serie verfilmt und auch in Deutschland gezeigt. Bass erzählt die fiktive Geschichte eines einfachen Jungen aus dem Böhmerwald, der in die weite Welt hinausging und einen der erfolgreichsten Zirkusse Europas aufbaute. Das entsprach jedoch nur entfernt der Realität. Man sollte daran denken, dass der Roman zur Zeit der nationalsozialistischen Besatzung erschien, betont Historiker Jordan:

Prager Theater Varieté
„Bass wollte vor allem den Patriotismus stärken. Die Figur des armen Burschen, der ein bedeutender Artist und schließlich Eigentümer eines Zirkus wurde, sollte eben diesem Zweck dienen. Die Geschichte entsprach aber nicht den Gegebenheiten, denn die Welt des Zirkus war streng hierarchisch aufgebaut. Da gab es kaum Möglichkeiten zum Aufstieg. Was aber Bass glaubwürdig geschildert hat, das waren die Fähigkeiten der böhmischen Arbeiter, die im Hintergrund für die erfolgreichen Auftritte sorgten. Auch die Vorbildfunktion der großen deutschen Zirkusse stimmte. Ich halte zudem die Impulse durch das Prager Theater Varieté wichtig, das heutzutage Musiktheater Karlín heißt. Die Gründer, die Gebrüder Tichý, entwickelten in dem Theater eine riesige Show, einschließlich Elefanten und weiteren wilden Tieren. Diesen Aspekt der Geschichte hat Eduard Bass ganz genau beschrieben.“

Eine weitere bekannte böhmische Zirkusfamilie hieß Kludský. Sie begann schon zu Mitte des 18. Jahrhunderts mit ihrer Kunst: anfangs als Clowns und Marionettenspieler, später als brillante Dresseure und Dompteure exotischer Tiere. Ihr Weg war aber voller Hindernisse: Mehrmals starben ihnen zum Beispiel die Tiere an epidemischen Erkrankungen. Nach dem Ersten Weltkrieg verbesserte sich jedoch die Lage. Dem damaligen Direktor Karel Kludský gelang es, in den 1920er Jahren einen der erfolgreichsten Zirkusse Europas aufzubauen.

„Der Zirkus verfügte über drei Manegen, in denen er mehrere Vorstellungen täglich aufführte. An diesen waren ungefähr 400 Tiere, mehrere Hundert Künstler und mehrere Orchester beteiligt. Das Gelände, auf dem die Menschen und Tiere untergebracht waren, hatte einen Kilometer Umfang. Wenn sich der Zirkus auf Tournee begab, musste man 200 Eisenbahnwaggons bestellen. Das war der Höhepunkt des Unternehmens, dem aber die Weltwirtschaftskrise von 1929 ein Ende bereitete. Der Betrieb musste auf mehrere Personen aufgeteilt werden. Obwohl der Name Kludský weiter bestand und auch zu kommunistischen Zeiten benutzt wurde, ging die ruhmreiche Geschichte langsam zu Ende. 1997 fanden die letzten Vorstellungen statt.“

Museum der böhmischen Marionetten- und Zirkuskunst in Prachatice  (Foto: Archiv des Nationalmuseums in Prag)
Hanuš Jordan hat ein Museum der böhmischen Marionetten- und Zirkuskunst aufgebaut. Dieses befindet sich in Prachatice / Prachatitz im Böhmerwald. Eben aus dieser Region kamen viele Künstler dieser Art. Allerdings ist es nicht einfach, ihre Geschichte zu dokumentieren. Historische Quellen gibt es kaum, und wenn, ist es schwer sie zu bekommen. Die Menschen aus dem Zirkus bilden auch eine verschlossene Gemeinschaft und öffnen Fremden nicht gerne ihre Türen.

„Die Zirkusleute waren immer unterwegs und sind an verschiedenen Orten zur Welt gekommen. Des Weiteren hatten sie eine Liste beliebter Vornamen, auch in mehreren Linien des Geschlechtes. Es gab zum Beispiel gleichzeitig fünf Karels in einer Familie, da verliert man leicht den Überblick. In gewisser Weise können zum Beispiel alte Plakate und Zeitungsartikel aus privaten Sammlungen als Quellen dienen. Ansonsten bleiben aber nur die Aussagen der Zeitzeugen, die natürlich so weit wie möglich überprüft werden müssen. Ich habe etwa zehn Jahre gebraucht, bevor ich die alten Zirkusleute dazu brachte, mit mir zu sprechen. Ich musste sie davon überzeugen, dass der Zirkus ein Bestandteil der tschechischen Kultur ist und dass seine Geschichte aufgezeichnet werden sollte.“

Cirk La Putyka - 'Slapstick-Sonate' | Foto: Cirk La Putyka
Heute sind in Tschechien 27 Zirkusse aktiv, die meist haben eine lange Familiengeschichte. Es besteht jedoch mindestens eine Ausnahme: das Unternehmen La Putyka, das erst 2009 gegründet wurde. Es gehört zum sogenannten „Neuen Zirkus“, in dem verschiedene künstlerische Gattungen verbunden sind: Akrobatik, Moderner Tanz, Puppentheater, Musik und Sport. Die Aufführungen bestehen nicht aus einzelnen Nummern, sondern erzählen immer eine Geschichte. Das internationale Ensemble tritt weltweit auf. Die Gründer des Betriebes sind überzeugt, dass auf diese Weise die böhmische Zirkustradition auch in Zukunft erhalten werden könne. Der „Neue Zirkus“ ist allerdings so neu nicht. Offiziell entstand er in den 1970er Jahren in Frankreich, seine Anfänge sind jedoch schon in der Zwischenkriegszeit zu finden. Und das auch in Prag dank der Theateravantgarde. Ondřej Cihlář ist Mitautor des Buches „Orbis Zirkus“:

„Die böhmische Avantgarde hatte Einfluss auf ganz Europa. Ich würde sagen, dies war die einzige Epoche, als die hiesige Theaterkunst dem europäischen Trend entsprach. Damals ging es den Künstlern darum, das Theater wieder für jedermann unterhaltsam zu machen. Die Vertreter der Avantgarde bemerkten, wo die Menschen zur Unterhaltung hingingen: zum Fußball, in die Varieté oder in den Zirkus. Und sie bewunderten die Unterhaltungskünstler wegen ihrer Disziplin und körperlichen Fitness. Schauspieler hielten sie hingegen eher für Nichtstuer, die ein dekadentes Leben führten. Daher entschlossen sich die Avantgardisten, Zirkuselemente auf die Bühne zu bringen. In Prag tat dies vor allem das sogenannte „Befreite Theater“ beziehungsweise das Duo Voskovec & Werich. Diese beiden bekannten Künstler waren so etwas wie Theaterclowns. Vom Zirkus übernahmen sie die geschminkten Gesichter und die Struktur der Gags, aber anstatt auf artistische Stücke setzten sie auf kluge Wortspiele. Selber sagten sie: Was wir nicht körperlich können, das können wir verbal.“

Foto: Petr Vavrouška,  Archiv des Tschechischen Rundfunks
Der Zirkus blieb auch als eine der wenigen künstlerischen Gattungen von politischen Turbulenzen verschont. Sogar während der „Heydrichiade“, also zur Zeit des schlimmsten nationalsozialistischen Terrors gegen die Tschechen nach dem Attentat auf den stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich im Mai 1942, wurden die Zirkusaufführungen nicht verboten. Auch die Kommunisten hatten keine Bedenken bei Kunststücken in der Manege, aber sie verstaatlichten alle Zirkusse und leiteten sie zentral. Die Zirkusfamilien wurden also Staatsangestellte, sie genossen aber relativ große Freiheiten und durften oft zu Tourneen ins Ausland ausreisen. Nach der Wende 1989 erhielten sie ihre Unternehmen zurück in eigene Hände.