Der erste Fruchtjoghurt der Welt - 75 Jahre Radlitzer JOVO

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Prager Schinken, Olmützer Quargeln und Pilsener Bier – was von böhmischen Delikatessen internationalen Ruf erlangt hat, das ist, ganz wie die Landesküche, meist von der herzhaft- rustikalen Sorte. Es gibt aber auch Gegenbeispiele, und die sind deshalb umso erstaunlicher. Oder hätten Sie gedacht, dass ausgerechnet der Fruchtjoghurt eine Prager Erfindung ist? In diesem Jahr feiert er sein 75. Jubiläum.

JOVO-Glas - der erste Fruchjoghurt der Welt  (Foto: Autor)
Erdbeer, Himbeer oder Pfirsch-Maracuja, sahnig oder kalorienreduziert, mit Fruchtstücken oder fein gerührt – Fruchtjoghurts gibt es heute in geradezu unüberschaubarer Vielfalt, in langen Kolonnen belegen sie in großen Supermärkten die Kühlregale gleich meterweise. Dabei ist der Joghurt noch ein verhältnismäßig junges Produkt – jedenfalls in Mitteleuropa. Erst nach der Jahrhundertwende wurde die Hirtendickmilch vom Balkan auf dem ganzen Kontinent entdeckt – damals als angebliches Wundermittel für das ewige Leben. Zu den frühesten Joghurtproduzenten in Böhmen gehörte die Radlitzer Dampfmolkerei in der Prager Vorstadt Smichov. Mit zweisprachigen Reklamemärkchen warb man für das Wunderprodukt:

„Radlickým jogurtem upevním zdraví,

omladnu, osvěžím, Děd nas si chválí“

„Ein Weiser spricht, nun passet auf:

Radlitzer Jogurt verlängert den Lebenslauf“

Ladislav Likler  (Foto: Autor)
„Der Joghurt wurde in schönen, schweren Gläsern verkauft, die eine konische oder später eine Kolbenform hatten. Das war damals neu – auch Milch gab es erst seit 1902 oder 1903 in Flaschen. Der Joghurt kam gleich von Anfang an im Glas oder in der Flasche auf den Markt. Verschlossen waren die Gläser mit Wachskartondeckeln, und so hat er sich eben nicht lange gehalten. Verkauft werden musste er noch am gleichen Tag – deshalb gab es einen ausgeklügelten Zuliefererverkehr am frühen Morgen mit eigens reservierten Zügen, die die Milchprodukte zu den Kunden nach Prag gebracht haben.“

Die neumodische Dickmilch vom Balkan, so weiß Molkereihistoriker Ladislav Likler, wurde damals ausschließlich als weißer Naturjoghurt verkauft. Der war oft ziemlich sauer, den Herstellern aber machte vor allem die kurze Haltbarkeit zu schaffen. An der Oberfläche bildete sich nämlich im Handumdrehen Schimmel – eine Herausforderung für die Technologen der Radlitzer Molkerei, die damals einer der modernsten Milchverarbeiter des Landes war:

„Es wurden alle möglichen Lösungen probiert, und schließlich hat man festgestellt, dass eine dünne Schicht Marmelade auf der Oberfläche nicht nur die Schimmelbildung verhindert, sondern dem Joghurt auch noch einen viel angenehmeren, milderen Geschmack gibt. Damals konnte man nämlich noch nicht die Säure des Joghurts regeln – manchmal war er mehr, manchmal weniger sauer, aber die Fruchtzugabe hat dafür gesorgt, dass der Geschmack ausgewogen und gut war.“

Die wichtigsten Marken der Radlitzer Molkerei  (Foto: Autor)
Unter dem Namen JOVO, der Zusammenziehung von Joghurt und „ovoce“, Tschechisch für Obst, kam der neue Joghurt auf den Markt. Das war im Jahr 1933, vor 75 Jahren – die Geburtsstunde des Fruchtjoghurts! Angeboten wurde er zunächst mit Erdbeer- kurz darauf auch mit Aprikosenmarmelade. Aus dem Stand wurde JOVO ein enormer Erfolg für die Radlitzer Molkerei – umso mehr, weil man sich auch gleich die Patente gesichert hatte, wie Ladislav Likler weiß:

„Die Methode wurde nach Abschluss des Patentverfahrens von rund 120 oder 130 Molkereien in der damaligen Tschechoslowakei übernommen, sie wurde aber auch ins europäische Ausland und nach Übersee verkauft. In Italien wurde die Firma JOVO Company gegründet, die den Fruchtjoghurt in Südeuropa vertrieben hat. Das war also wirklich eine lebensmitteltechnische Bombe, die die Radlitzer Molkerei berühmt gemacht hat.“

Auch wenn der Fruchtjoghurt auf den ersten Blick schlecht in die Reihe der meist schweren und deftigen böhmischen Spezialitäten und Delikatessen passen mag – dass er gerade in Prag erfunden wurde, ist für den Milchexperten Ladislav Likler kein Zufall:

„Das war das Ergebnis des phänomenalen Strebens der Radlitzer Molkerei, wo man bei allen Produktgruppen versucht hat, sie nicht nur in hoher Qualität, sondern auch nach neuen, modernen Verfahren herzustellen. Und dabei sind eine ganze Reihe von Erfindungen gemacht worden – die Leitung und die Mitarbeiter waren wirklich bemüht, etwas zu schaffen, was es sonst nirgendwo gab.“

Schon die Gründung der Molkerei durch den Prager Gutsbesitzer Karl Kirschner im Jahre 1872 steht im Zeichen der (industriellen) Revolution, die das neue Unternehmen als „Dampfmolkerei“ auch stolz im Namen führt. Während die Prager Milchversorgung noch auf den kleinen Gutswirtschaften beruhte, konzipiert Kirschner bewusst eine Industriemolkerei– erst die zweite überhaupt in Böhmen. Ein Experiment mit dem Fortschritt – obwohl Kirschner damit einige Jahre zuvor bereits gescheitert war. Mit dem Versuch, auf den trockenen Höhen über Smichov eine Brauerei einzurichten, hatte er seine Familie beinahe in den Bankrott gerissen. Seine Tochter Lola, unter dem Pseudonym Ossip Schubin erfolgreiche Schriftstellerin, schildert das später leicht verfremdet in einem ihrer Romane:

„Es soll ein wahres Muster von einem Bräuhaus gewesen sein, aber als es fertig war, stellte es sich heraus, dass nirgends genügend Wasser vorhanden war, um es zu betreiben. Eine zeitlang schleppte man das Wasser vierspännig aus dem Fluss hinauf. Nachdem diese Art der Wasserbeschaffung sich als zu kostspielig herausgestellt hatte, ließ man es stehen. Seit mehreren Jahren verharrt es bereits in diesem passiven Zustand und verdaut mit triumphierender Ruhe das viele Geld, welches es verschlungen. Das Ungeheuer.

Jedesmal, wenn Onkel und Tante etwas miteinander haben, wirft sie ihm sein Bräuhaus an den Kopf. Anstatt angesichts des von ihm angerichteten Unheils klein beizugeben, erwidert er jedesmal: ´Das Unternehmen war ausgezeichnet, meine Idee war glänzend – wenn´s nur gegangen wäre!´ Aber es war eben nicht gegangen.“

Die Molkerei dagegen „geht“. 1895 zieht man aus Radlitz in eine neue, moderne Fabrikanlage nach Smichov. Neue Produktionsmethoden garantieren höchste Qualität. Alle feinen Hotels, Konditoreien und Cafés in und um Prag beziehen ihre Milch von der Radlitzer Molkerei. Auch für die Industrie fertigt man: die Radlitzer Molkerei ist seinerzeit der einzige Betrieb in den Böhmischen Ländern, der Milchzucker herstellt. An die Knopfindustrie liefert man Kasein, den Grundstoff für Kunsthorn. Und auch bei den klassischen Molkereiprodukten kann man immer wieder mit Neuigkeiten aufwarten, weiß Molkereihistoriker Ladislav Likler:

„Man wollte Vorreiter des modernen Molkereiwesens sein. Dass es gelungen ist, Patente von Weltbedeutung zu erhalten wie im Fall des JOVO-Fruchtjoghurts, das ist schon ein Zeichen dafür. Auch eine Reihe der Radlitzer Käseprodukte war einzigartig, seien es die Schmelzkäse, die Frisch- oder die Naturkäse - auch wenn man das der Laie auf den ersten Blick natürlich nicht sieht. Als einer der ersten Betriebe haben sie Kefir hergestellt. Als erste haben sie Milch in Flaschen abgefüllt – die hatten einen Patentverschluss mit Porzellankrone – dazu gab es spezielle Tragkästen und Pfandmärkchen, die man beim Kauf einer Flasche bekommen hat. Das war ein komplettes, durchdachtes System, und das wurde auch im übrigen Europa registriert.“

Dort, im übrigen Europa, stellte man sich auch selbstbewusst dar – so war die Radlitzer Molkerei etwa 1905 auf der Weltausstellung in Lüttich vertreten. Filialen gab es in Wien und zwei sogar in Frankreich. In Prag selbst war der Betrieb ohnehin nicht zu übersehen. Kurz nach dem ersten Weltkrieg gehört sie zu den ersten Betrieben, die für die Auslieferung Lastautomobile einsetzen – eine lohende Maßnahme, denn in der Stadt hatte die Molkerei in den besten Zeiten rund 100 eigene Verkaufsstellen. Die goldenen Zeiten der Radlitzer Molkerei endeten aber, wie so vieles in Prag, mit dem zweiten Weltkrieg und der Machtübernahme der Kommunisten wenige Jahre später:

„Im Jahr 1948 hat der Betrieb einen kommunistischen Leiter bekommen und das Niveau ist rapide gesunken was Organisation, Technologie, und Sauberkeit betraf. Was übrig geblieben ist, war eine ganz und gar durchschnittliche Molkerei. Das ging dann noch bis ins Jahr 1993 so, und dann ist in der Radlitzer Molkerei der Betrieb endgültig eingestellt worden.“

Ein Schicksal, dass den beliebten JOVO-Joghurt, den ersten Fruchtjoghurt der Welt, schon viel früher getroffen hat. 1962 wurde der klassische im Glas gereifte Joghurt durch geschlagenen Joghurt ersetzt, der nun in Plastikbecher gefüllt wurde. Die Kunden haben es nicht verziehen – die Produktion fiel von 30.000 Stück am Tag auf ein Zehntel und wurde bald ganz aufgegeben.