ČSSR 1989: Es muss doch endlich etwas passieren…

Palach-Woche 1989 (Foto: Tschechisches Fernsehen)

Vor 25 Jahren ging die kommunistische Ära in der Tschechoslowakei zu Ende. Anlässlich dieses Jubiläums erinnern einige tschechische Medien auch daran, worüber und wie kurz vor der Wende berichtet wurde. Obwohl die Presse damals noch unter strenger Kontrolle stand, ließ sich aus den Nachrichten und Kommentaren eine starke Nervosität der Regimes spüren. Was ging aber dem Zusammensturz des totalitären Regimes voran?

In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre begannen sich die Dinge im Ostblock bereits zu bewegen. Der sowjetische Staats- und Parteiführer Michail Gorbatschow verkündete sein Reformprogramm „Perestroika“, und auch in der Tschechoslowakei hofften Teile der Gesellschaft auf politische und wirtschaftliche Veränderungen. Doch innerhalb der KPTsch waren viele Genossen eher beunruhigt über den neuen Kurs, sie fürchteten, dass die Entwicklung außer Kontrolle geraten könnte. Zugleich konnten sie aber die Reformen nicht offen ablehnen, weil die wirtschaftliche Lage immer schlechter wurde und die Unzufriedenheit unter den Menschen wuchs. Umbau der Wirtschaft und Demokratisierung der Gesellschaft – diese Schlagworte wurden dennoch fast täglich in allen Medien gebraucht. Miroslav Ševčík leitet die nationalwirtschaftliche Fakultät an der Wirtschaftshochschule in Prag:

Miroslav Ševčík  (Foto: Zdeněk Vališ)
„Es zeigte sich, dass die Planwirtschaft nicht in der Lage war, die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Die Tschechoslowakei hatte zwar damals eine relativ hohe Nationale Rente – das war ein spezifischer Wirtschaftsindikator in den Ost-Block Staaten, der anders als Brutto-Inlandsprodukt konstruiert war. Es gab aber einen Überschuss an Produkten, die niemand kaufen wollte, und zugleich herrschte ein großer Mangel an weiteren Waren, die dringend nachgefragt wurden. Für Farbfernseher, Kühlschränke oder Waschmaschinen musste man zum Beispiel in langen Schlangen anstehen. Wer ein neues Auto kaufen wollte, musste sich sogar in eine Warteliste eintragen lassen.“



„Einige Sätze“  (Foto: ČT24)
Die Propaganda sprach von einer grundlegenden Reform des Sozialismus. Was tatsächlich geschah, waren aber kosmetische Änderungen, die die Probleme nicht lösen konnten. Als großartige Sache gepriesen wurde zum Beispiel, dass 1988 möglich wurde, kleine Gewerbe selbständig zu betreiben. Dies war jedoch in der DDR, Polen oder Ungarn ununterbrochen möglich gewesen. Ähnlich war es mit der Demokratisierung. Kritik wurde nur dann erlaubt, wenn sie die offizielle Linie nicht in Frage stellte. Dies wurde klar, nachdem Ende Juni 1989 eine Petition namens „Einige Sätze“ veröffentlicht wurde. Hauptautor war der Oppositionelle Václav Havel, der kurz zuvor aus dem Gefängnis entlassen wurde. Frei übersetzt stand in der Petition unter anderem:

Demonstrationen von Bürgern zu Jahresbeginn 1989
„Die Demonstrationen von Bürgern zu Jahresbeginn 1989 und die harten Repressionen gegen ihre Teilnehmer haben deutlich gemacht, dass die tschechoslowakische Regierung zwar von einer Demokratisierung spricht, tatsächlich aber sich gegen alles stellt, was Demokratie ausmacht oder ihr auch nur nahekommt. Zugleich ist aber klar, dass die Öffentlichkeit den Mut hat, ihren Wunsch nach wirklich grundsätzlichen Änderungen zu äußern. Erste Voraussetzung für jegliche sinnvolle Änderungen ist unserer Meinung nach die Rückkehr von Freiheit, Vertrauen, Toleranz und Pluralität.“

In der Petition forderten Havel und seine Mitstreiter auch, alle politischen Häftlinge freizulassen, die Versammlungsfreiheit zu ermöglichen, die Zensur aufzuheben und die Religionsfreiheit zu respektieren. Der Text wurde über die ausländischen Radiosender Radio Free Europe und Voice of Amerika verbreitet. Die kommunistischen Medien veröffentlichten die Petition hingegen nicht, stattdessen publizierten sie viele kritische Äußerungen gegen sie. Diese wurden oft von einfachen Menschen aus dem Volk (sogenannten Volksgenossen) vorgetragen, was den Schein erwecken sollte, dass die meisten Tschechoslowaken derselben Meinung seien. So sprach im Tschechoslowakischen Rundfunk zum Beispiel der slowakische Bergarbeiter František Werbich.

Václav Havel  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
„Der Umbau- und Demokratisierungsprozess zeigt die die Menschen in ihrer vollen Nacktheit. Die Guten mit einem positiven Verhältnis zum Sozialismus fühlen sich motiviert, Fehler auszumerzen und ihre Aufgaben zu erfüllen. Leider sind auch Einzelne unter uns, die sich mit jedem und allem verbinden, nur um dem Sozialismus und der Partei zu schaden. Sie packen ihre bösen Theorien äußerst schlau in Phrasen von Menschenrechten und Humanismus. Ich habe mein ganzes Leben der Arbeit, der kommunistischen Partei und meiner Familie gewidmet. Zusammen mit meiner Ehefrau habe ich vier Kinder großgezogen. Unser Ziel ist es, in einer sozialistischen Heimat zu leben.“

Trotz der mächtigen Propaganda unterschrieben immer mehr Menschen die Petition, darunter auch bekannte Schauspieler oder Popsänger. Aber nicht nur die Flüsterpost funktionierte. Die Reden der kommunistischen Machthaber wirkten manchmal so komisch, dass sie die Ratlosigkeit des Regimes verrieten. Ein typisches Beispiel war die Rede von Parteichef Milouš Jakeš vom 17. Juli 1989. Sie erklang bei einer geschlossenen Parteisitzung und war eigentlich auch nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Wer die Tonaufnahme anfertigte und diese bis in die Münchner Redaktion von Radio Freies Europa schmuggelte, das ist bis heute nicht klar. Für Jakeš war es sicher ein Schock, sich selbst in den Sendungen dieses Senders aus dem feindlichen Ausland zu hören. Einige Passagen der Rede wurden bald zur Legende, wie zum Beispiel diese:

´Einige Sätze´
„Einem Genossen wurde gestern die Frage gestellt, warum man Resolutionen gegen die Petition ´Einige Sätze´ schreiben sollte. Also erstens, schauen Sie: Das ist eine wichtige Sache. Es ist nötig, auf diese Dinge zu reagieren. Aber warum denn? Weil sonst die Autoren dieses Pamphlets sagen: Sehen sie, das Zentralkomitee der Partei verurteilte zwar die Petition, die Öffentlichkeit schweigt aber, und wir haben schon mehrere Tausend Unterschriften gesammelt. Das heißt, die Öffentlichkeit geht mit uns. Und ich frage: Wo ist die gelobte Demokratie? Wo ist die Stimme des Volkes? Die Demokratie besteht doch darin, dass das Volk eine Stellungnahme dazu abgibt! Und welche Stellungnahme kann das sein? Eine ablehnende, selbstverständlich. Das ist doch das Recht, aber auch die Pflicht der Öffentlichkeit, würde ich sagen! Sie darf ihre Führung nicht im Stich lassen!“

Augustin Navrátil  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Innerhalb weniger Monate unterschrieben rund 40.000 Menschen die Petition. Eine weitere Eingabe, die zum Sturz des Regimes beitrug, entstand bereits 1988 und forderte religiöse Freiheit. Es war die absolut größte Aktion dieser Art in den kommunistischen Staaten, die Zahl der Unterzeichner lag bei 400.000. Ihr Autor war ein katholischer Aktivist aus Mähren: Augustin Navrátil. Ihm gelang es nicht nur, die Gläubigen anzusprechen, sondern auch viele weitere Menschen, für die die Unterdrückung der Religion ein Symbol für die Unfreiheit der ganzen Gesellschaft war. Die Katholische Kirche punktete auch mit dem Programm „Zehn Jahre der geistlichen Erneuerung“, das 1988 der damalige Prager Erzbischof František Tomášek ausrief. Sein enger Mitarbeiter und Mitautor des Programms war der Priester Tomáš Halík, der am Donnerstag die Ehrendoktorwürde der Universität in Erfurt erhalten hat. Damals erlaubte ihm das Regime nicht öffentlich tätig zu sein. Heute ist Halík Professor an der Karlsuniversität in Prag.

Tomáš Halík  (Foto: Martina Schneibergová)
„Wir spürten damals, dass Änderungen in der Luft lagen. Zugleich waren wir der Überzeugung, dass eine bloße ‚Perestroika‘ nicht reichen werde, dass ein Umbau der wirtschaftlichen und politischen Strukturen zu wenig sein dürfte. Die Entwicklung der Demokratie braucht ein gewisses moralisches, ja auch geistliches Umfeld. Die Kirche verfügte damals über eine hohe Autorität in der Gesellschaft, viele Priester waren inhaftiert, und ein öffentliches religiöses Bekenntnis brachte viele Kommunisten zur Weißglut. Zugleich konnte aber die Kirche nicht wie ein Messias wirken. Sie musste unserer Meinung nach eine breite Koalition der Menschen initiieren, die auch die Mitverantwortung für das moralische Klima in der Gesellschaft spürten. Wir wollten jedes Jahr ein Thema nach dem Vorbild der zehn Gebote Gottes öffnen und dies in einem breiten gesellschaftlichen Kontext interpretieren.“

Doch die Ereignisse waren schneller als gedacht. Am 12. November 1989 kam es zur Heiligsprechung der Agnes von Böhmen, was viele Menschen bereits als ein wirkliches Zeichen der Wende wahrnahmen. Die kommunistische Regierung erlaubte insgesamt 11.000 Menschen, zur Feier nach Rom zu fahren – dies war ein unglaubliches Zugeständnis zu sozialistischen Zeiten. Eine Woche später kam es zur großen Studentendemonstration in Prag, deren blutiges Ende zum Fanal wurde. In der Folge stürzte dann das Regime wie ein Kartenhaus in sich zusammen.