Bis in den Salon des Zaren – böhmische Harfenspieler im 19. Jahrhundert

Foto: Archiv des Nationalmuseums Prag

Im 19. Jahrhundert wanderten viele Tausend Menschen aus den armen Gegenden Böhmens aus. Zum Teil waren sie erfolgreich und konnten dadurch eine neue Existenz im Ausland gründen. Bekannt ist dies beispielsweise bei den Glasmachern oder Zirkusleuten. Die böhmischen Harfenisten erfreuten sich zur Zeit der Monarchie ebenfalls großer Berühmtheit, heutzutage sind sie jedoch vergessen.

Foto: Archiv des Nationalmuseums Prag
Die Volksharfe gehörte im 18. und 19. Jahrhundert zu den beliebtesten Musikinstrumenten in den Böhmischen Ländern. Es handelte sich um eine Verkleinerung der großen Harfe, die auf den Konzertbühnen sozusagen als königliches Instrument gilt. Die Volksharfe war nur aus Holz gefertigt und ließ sich daher einfach tragen. Gespielt wurde sie von Jung und Alt, Frauen und Männern, ausgebildeten Musikern und reinen Amateuren. Manche der Harfenisten waren prächtig gekleidet, andere liefen barfuß und zerlumpt herum. Auf den Plätzen in den Städten, auf den Höfen der Mietshäuser, bei Dorffesten oder auf Berggasthöfen – überall erklang dieses Instrument, manchmal solo, manchmal von Akkordeon oder Geigen begleitet. Und häufig machte dann der Hut für die erwünschte Belohnung noch seine Runde. Prag war im 18. Jahrhundert laut verschiedenen Quellen voller Harfenisten. Sogar Wolfgang Amadeus Mozart war davon begeistert, sagt Jan Kříženecký, Mitarbeiter am Museum der tschechischen Musik.

Foto: Jan Kříženecký,  Archiv des Nationalmuseums Prag
„Mozart ist in Prag einem der beliebtesten Harfenisten begegnet. Dies war Josef Hausler, der im Gasthaus ‚Zum Goldenen Engel‘ für die Gäste spielte. Der Wiener Komponist war in diesem Gasthaus bei einem seiner Aufenthalte in Prag untergebracht. Und wie er selbst notierte, sei er vom Spiel des Volksharfenisten begeistert gewesen. Auch bei seinen weiteren Besuchen in Prag ließ es sich Mozart nicht nehmen, diesen Musiker aufzusuchen. Einmal hat er sogar direkt im Gasthaus ein kleines Musikstück für Hausler verfasst.“

Aber nicht nur in Prag gab es erfolgreiche Harfenisten. Besonders zwei weitere Orte galten als die Wiegen vieler weiterer Virtuosen. Einer von ihnen war Přísečnice / Pressnitz in Nordböhmen. Im 19. Jahrhundert waren dort eine Harfenfabrik und eine bekannte Harfenschule angesiedelt. Schüler aus dem Ort konnte man in Deutschland und Österreich, aber auch in Rumänien, der Türkei oder England spielen hören. Eine Pressnitzer Kapelle spielte 1813 sogar für den österreichischen Kaiser Franz II., den russischen Zar Alexander und den preußischen König Friedrich Wilhelm, die während des Krieges mit Napoleon in der nahegelegenen Stadt Kadaň / Kaaden übernachteten. Die Tradition ging nach dem Ersten Weltkrieg zu Ende, als Pressnitz von massiver Auswanderung betroffen war. Die zweite durch die Harfenisten geprägte Gemeinde lag in Ostböhmen und hieß Nechanice / Nechanitz. Der Ort gehörte zum Landbesitz vom Graf Ernst Harrach, der sich hier Anfang des 19. Jahrhunderts ansiedelte. Jan Kříženecký:

Schloss bei Nechanice  (Foto: Boris7,  Public Domain)
„Graf Harrach holte seine komplette Verwaltung nach Nechanice. So kamen relativ viele reiche Menschen in den Ort, die genug Geld hatten und dieses gerne auch in den Gasthöfen ausgaben. Das motivierte die Einheimischen, die herrschaftlichen Angestellten gut zu unterhalten. Viele Nechanitzer musizierten also und hatten dadurch ein gutes Einkommen. Sie spielten damals populäre Walzer oder Polkas und auch viele Krämerlieder, deren Texte auf aktuelle Ereignisse reagierten. Diese waren damals besonders beliebt, weil sie als eine Art Informationsquelle dienten. Graf Harrach beschloss, in der Nähe des Dorfes ein Schloss zu bauen, was eine neue Zuwanderungswelle in die Gemeinde brachte. Dieser Boom hielt gut 15 Jahre an. Es gab praktisch keine Familie im Dorf, in der nicht jemand mit Musik sein Geld verdiente. Nachdem aber 1850 der Schlossbau fertig wurde, zogen die Baumeister und Arbeiter wieder weg, und die Erwerbsmöglichkeiten für die Musiker schrumpften. Sie mussten also Nechanice verlassen und an einem anderen Ort ihr Glück suchen.“

Unter den Nechanitzer Musikanten gab es auch ausgebildete Musiker und Musiklehrer, die in der Lage waren, schwierige Kompositionen zu spielen. Sie suchten begabte junge Spieler aus und gründeten verschieden große Kapellen, die dann in die Welt auswanderten. Viele Mitglieder dieser Ensembles waren erst 14 oder 15 Jahre alt, die Reise war für sie wie eine Reifeprüfung. Üblicherweise waren sie drei bis fünf, manchmal auch noch mehr Jahre unterwegs. Die Kapellen bestanden aus Harfen und Geigen, die je nach dem um weitere Instrumente ergänzt wurden. Am Wichtigsten war jedoch, dass die Musiker von ihren Reisen relativ viel Geld nach Hause brachten. Mit diesem Reichtum wurden in Nechanice neue Häuser gebaut, und die Gemeinde prosperierte ungeheuer. Was eine solche Reise für einen Jungen bedeutete, das hat zum Beispiel Věnceslav Metelka in seinen Memoiren beschrieben.

„Mit zwölf Jahren hörte ich auf, in die Schule zu gehen, mich lockte die Musik. Nach gewisser Zeit lernte ich einen Harfenist kennen, der mich bat, mit ihm irgendwohin nach Deutschland zu reisen. Lange musste ich meinen Vater um Erlaubnis bitten, schließlich willigte er aber ein. Mit der Geige im Kasten und mit ein paar Groschen in der Tasche machten wir uns auf die Reise - der Harfenist vorneweg, ich hinter ihm wie ein Hündchen. Wo ein großes Haus, eine Mühle, ein Gasthaus, eine Werkstatt oder ein Amtsgebäude war, dort hielten wir und begannen zu spielen. Es lief vorzüglich, überall wurden wir mit Essen, Trinken und Geld belohnt. Nach einem Monat waren wir wieder zu Hause. Ich hatte 18 Groschen in der Tasche und schenkte sie stolz dem Vater. Er erlaubte mir dann, wieder mit dem Harfenisten auf Wanderschaft zu gehen, diesmal für noch längere Zeit. Insgesamt war ich so dreimal in der Welt, und jedes Mal stand uns das Glück bei.“

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Harfenspiel in Nechanice zu einem richtigen Geschäft. Die Gemeinde war weit und breit bekannt, und nicht selten wurden Kapellen von dort bestellt. Es reisten sogar Agenten aus Russland an, um begabte junge Spieler ausbilden zu lassen und diese dann im Zarenreich zu engagieren. Das Interesse konzentrierte sich in erster Linie auf Harfenisten, im Weiteren aber auch auf Geiger, Gitarristen und Akkordeonspieler. Jiří Klapka ist Vorsitzender des tschechischen Verbandes der Russisten:

„Die russischen Unternehmer schlossen mit den Eltern der Musiker einen Einjahresvertrag und gaben ihnen einen Vorschuss. Die Nachfrage war so hoch, dass sich die Agenten auch in der breiten Umgebung nach Talenten umschauten. Die Kinder erhielten meist noch kurze Zeit weiter Unterricht, um sich im Spiel zu vervollkommen, und zogen dann weg. Sie mussten dann erst einmal den Vorschuss abarbeiten, dennoch verdienten sie genug Geld. Für viele Familien sicherte dies einen wahren Reichtum und ermöglichte sogar, ein eigenes Unternehmen aufzubauen. Nicht immer lief alles glatt und fair, die Kinder wurden manchmal bei der Arbeit ausgebeutet und bestohlen. Darüber hinaus kehrten manche krank zurück.“

Peter der Große
Dass die Harfenisten gerade in Russland so beliebt waren, dafür gab es einen Grund. Mitte des 17. Jahrhunderts hatte die orthodoxe Kirche in Russland alle Musikinstrumente verbrennen lassen, weil sie diese für Teufelswerk hielt. Die Instrumentalmusik konnte sich dann erst wieder unter der Herrschaft von Peter dem Großen entwickeln, aber das immer noch in beschränktem Maß. Die Verbindung von Harfe und Geige war daher für die Russen neu, und sie empfanden sie als sehr melodisch. Die böhmischen Musikanten brachten diese Kunst ins ganze Land – von Moskau über Sankt Petersburg bis in den weiten Osten. Sie spielten aber auch in Georgien, Armenien, auf der Krim oder in Odessa.

„Dieses Phänomen dauerte bis Anfang des 20. Jahrhunderts an und wurde durch eine amtliche Verordnung beendet. In vielen Städten setzte die orthodoxe Kirche ein Verbot durch, an öffentlichen Orten zu musizieren. Zudem kamen nun viele deutsche Kapellen nach Russland. Sie nutzten die guten politischen Kontakte zwischen beiden Ländern und konnten ihre böhmischen Konkurrenten verdrängen. Diese zogen sich daher zurück. Einige von ihnen hielten aber auch bis zum Ersten Weltkrieg durch. Sie schlossen sich dann oft der tschechoslowakischen Legion an, denn das wurde für sie die einzige Chance, wieder nach Hause zu gelangen“, so Klapka.

Illustrationsfoto: Rama,  Wikimedia CC BY-SA 2.0 FR
Aber auch die k. u. k. Behörden begannen die Nechanitzer Harfenisten zu verfolgen. Anlass dazu war eine Schrift mit dem Titel „Die ostböhmische Sklaverei“ von Bohuslav Gebauer. Der Autor verurteilte in seinem Text vor allem, dass Kinder Geld verdienen mussten. Dies trat eine Pressekampagne los, und das amtliche Verbot ließ nicht lange auf sich warten. Die sozialen und politischen Änderungen nach dem Ersten Weltkrieg führten dann zu einem schnellen Untergang der ungewöhnlichen Tradition.