Als der Damm brach – Flutkatastrophe im Isergebirge 1916

Ehemalige Talsperre an der Weißen Desse (Foto: David Hertl, Archiv des Tschechischen Rundfunks)

Im September 1916 lag Europa tief im Ersten Weltkrieg. Die Zahl der Gefallenen nahm zu, Not prägte das Alltagsleben. Als ob dies nicht schon genug war, erlitten die Bewohner des nordböhmischen Isergebirges noch einen weiteren Schicksalsschlag: Die kurz zuvor errichtete Talsperre am Fluss Weiße Desse – heute Bílá Desná – brach. Es war das größte Unglück seiner Art in der böhmischen Geschichte.

Ehemalige Talsperre an der Weißen Desse  (Foto: David Hertl,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Wo sich einst die Talsperre an der Weißen Desse befand, dort kommen heute gerne Ausflügler hin. Vom Bahnhof in Josefův Důl / Josefstal führt ein Lehrpfad hinauf. Unterhalb des ehemaligen Staudamms gibt es eine Imbissbude mit Souvenirs, ein bisschen höher sieht man den Kontrollturm der einstigen Talsperre – das einzige oberirdische Bauwerk, das das Unglück überstanden hat. Sonst rauschen nur das Wasser und die dichten Wälder. Denn der Ort liegt heute in einem Naturschutzgebiet, und in einem der ehemaligen Stollen nisten Fledermäuse.



Jiří Janáč  (Foto: David Hertl,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Doch was hatte die damaligen Bewohner bewogen, das Flüsschen gerade dort zu sperren? Paradoxerweise sollte der Damm die Siedlungen im Isergebirgs-Vorland vor Hochwasser schützen, ab Mitte des 19. Jahrhunderts hatten die Flutkatastrophen zugenommen. Die schlimmste kam im Juli 1897 – intensiver Dauerregen führte zu Überschwemmungen im gesamten Einzugsgebiet der Lausitzer Neiße und der Iser. Auch Liberec / Reichenberg stand damals teilweise unter Wasser. Deswegen wurden bereits an der Wende zum 20. Jahrhundert mehrere Talsperren gebaut. Der Physiker Jiří Janáč von der Tschechischen Akademie der Wissenschaften befasst sich mit der Geschichte von Wasserwerken:

„Die ersten Talsperren in Böhmen wurden eben im Isergebirge gebaut. Dies hing mit dem Einfluss des deutschen Wasserbauwesens zusammen, weil im benachbarten Deutschland massiv in den Schutz vor Hochwasser investiert wurde. Im damaligen Reichenberg entstand eine Genossenschaft für den Bau von Talsperren, die den deutschen Ingenieur Otto Intze mit dem Projekt beauftragte. Dieser Experte erarbeitete ein Grundschema für die Wasserstauung im Einzugsgebiet der Lausitzer Neiße. Es bestand aus sechs Talsperren, davon wurden fünf gebaut. Sie stehen bis heute und versorgen die Bewohner von Liberec und Jablonec mit Wasser.“

Armdickes Loch im Damm

Otto Intze  (Foto: Public Domain)
Für Otto Intze, der in Deutschland als Gründer des modernen Wasserbauwesens gilt, war das Projekt in Nordböhmen das letzte in seiner Karriere als Ingenieur. Bei einem seiner Besuch in Desná / Dessendorf erlitt er einen Hirnschlag und starb ein paar Monate später. Dies war 1904. Den Auftrag für die Talsperre an der Weißen Desse übernahm der Prager Ingenieur Wilhelm Plenkner. Die Staatskommission bewilligte das Projekt und übernahm die Hälfte der Gesamtkosten.

Das Bauwerk an der Weißen Desse hatte eine „Zwillingsschwester“: die Talsperre an der Schwarzen Desse, nur ein Kilometer entfernt. Beide wurden parallel gebaut und waren durch einen Stollen miteinander verbunden. So sollten die Wassermengen in beiden Werken besser reguliert werden können. Die Staubecken sollten ursprünglich jeweils 400.000 Kubikmeter Wasser aufnehmen können und mehr als fünf Quadratkilometer Fläche haben.

Bau im Juni 1914  (Foto: Public Domain)
1912 wurde mit dem Bau begonnen, doch dann kam es zu Problemen: Intensiver Regen beschädigte die Anlagen, und nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde der Staatshaushalt stark zusammengestrichen. Dennoch wurden beide Talsperren im November 1915 eingeweiht. Die Schneeschmelze im Frühjahr überstanden sie, dann kam jedoch der 18. September 1916. Es war ein Montag, beide Staubecken waren nur zu etwa zwei Dritteln voll.

„Etwa gegen drei oder halb vier Uhr nachmittags bemerkte eine Gruppe von Waldarbeitern, dass durch die Staumauer der Weißen Desse Wasser floss. Das Loch soll ungefähr so groß gewesen sein, dass ein menschlicher Arm durchpasste. Die Männer informierten den Dammwärter und dieser seine Vorgesetzten. Der Dammwärter ließ die Waldarbeiter stromabwärts laufen und die Nachricht verbreiten, dass die Talsperre Wasser ablassen würde. Er selbst soll sich laut seinen späteren Aussagen bemüht haben, die Schleuse des Staudamms zu öffnen, was aber nicht mehr möglich gewesen sein soll. Der Damm begann, ziemlich schnell zu brechen. Der Wärter entschied sich, lieber sein Leben zu retten, anstatt den Damm zu öffnen“, so Jiří Janáč.

Schlammmassen so hoch wie Bäume

Foto: Public Domain
Was folgte, war ein vernichtendes Unglück. Die Wassermassen trugen auch eine Menge Baumaterial aus dem Damm ins Tal – und das alles riss Bäume, Steine und Häuser mit sich. Nach der Flutwelle standen laut Zeitzeugen in Dessendorf, etwa fünf Kilometer stromabwärts, die Schlammmassen so hoch wie die mächtigsten Bäume. 62 Menschen kamen den offiziellen Angaben nach ums Leben. Einige Tote konnte man jedoch nicht identifizieren, andere Opfer blieben verschollen. Mehr als 100 Häuser wurden zerstört, mehrere Hundert Menschen waren obdachlos. Weil auch mehrere Sägewerke, Glasschleifereien und weitere Fabriken betroffen waren, verloren etwa 1000 Menschen ihre Arbeitsplätze. Über die Katastrophe wurde im In- und Ausland berichtet, und Spenden kamen daher nicht nur aus Böhmen, sondern auch aus Sachsen und sogar aus Wien.

Die Behörden untersuchten viele Jahre lang den Fall, aber selbst in einem Gerichtsprozess konnte kein Schuldiger gefunden werden. Jiří Janáč:

„Die erste Version bei der Untersuchung der Katastrophe lautete, dass das Bauprojekt geändert und dass die Bauaufsicht schlampig durchgeführt worden sei. Die Untersuchungskommission, die gleich nach Beendigung der Rettungsarbeiten zum Ort gelangte, stellte fest, dass der Unterbau des Staudamms zu schlecht abgedichtet gewesen war. Kritisiert wurde auch, dass der Damm nur aufgeschüttet und nicht gemauert worden war, wie es bei ähnlichen Projekten in der k. u. k. Monarchie und in Deutschland üblich war. Der Hauptbauaufseher Karel Podhajský nahm sich jedoch bald nach dem Unglück das Leben, und auch der Hauptprojektant Plenkner verstarb. Zur Rechenschaft gezogen werden sollten also der Ingenieur Emil Gebauer und ein weiterer Bauaufseher, August Klammt. Sie wehrten sich aber gegen die Vorwürfe mit der Behauptung, dass die geologische Sohle instabil wäre, was vor dem Baubeginn aber nicht untersucht worden sein. Dies bestätigten schließlich auch mehrere Gutachten, die die tschechoslowakische Justiz nach dem Ersten Weltkrieg in Auftrag gab. Demnach war die Ursache für die Katastrophe die spezifische Sohle des Isergebirges und die mangelhafte geologische Forschung.“

Selbstmord, Begnadigungen und Freisprüche

Wilhelm Riedel
Der Gerichtsprozess begann 1920. Angeklagt wurden neben den erwähnten Männern auch der Vorsitzende der Wassergenossenschaft, der örtliche Unternehmer Wilhelm Riedl, sowie Vertreter der Baufirma. Nach zwei Jahren wurden sie alle freigesprochen. Der Staatsanwalt legte jedoch im Namen der Geschädigten Berufung ein. Riedl und Klammt erhielten Bewährungstrafen, die 1927 auch das Obergericht bestätigte. Im darauffolgenden Jahr wurden sie aber anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Tschechoslowakei durch eine Amnestie von Staatspräsident Tomáš Garrigue Masaryk begnadigt.

Wilhelm Riedl verlangte aber eine Wiederaufnahme des Verfahrens, weil er auf seiner Unschuld beharrte. Er starb dann während der Verhandlungen, trotzdem gab ihm das Gericht 1931 Recht. Offensichtlich wurde den erwähnten Gutachten Glauben geschenkt, meint Jiří Janáč.

Foto: Public Domain
„Wenn man zum Beispiel die Gutachten des Professors und Wasserbauexperten Antonín Smrček liest, dann muss man zu dem Schluss kommen, dass alles nur ein organisatorisches Problem gewesen war. Als Fehler nennt der Autor zum Beispiel, dass der Investor, also die Genossenschaft, die Bauaufsicht selbst ausgeübt hat und dass das Bauprojekt anders realisiert wurde, als es zugelassen worden war. Daher schlug er die Gründung einer staatlichen Expertenkommission vor, die alle solche Bauten gründlich kontrollieren sollte. Seiner Meinung nach sollte man neu überlegen, wie beim Bau von Talsperren künftig zu verfahren sei. Dass die Einzelnen von ihrer Verantwortung freigesprochen wurden und die Schuld auf die natürlichen Gegebenheiten abgewälzt wurde, sollte davor schützen, den Bau von Talsperren zu stigmatisierten, weil er solche Katastrophen mit sich bringen kann.“

„Schwestertalsperre“ an der Schwarzen Desse  (Foto: Huhulenik,  CC BY 3.0)
Die Wassergenossenschaft und die Angeklagten bemühten sich persönlich darum, die zerstörte Talsperre wieder aufbauen zu lassen. Stattdessen wurden aber an der Weißen Desse nur mehrere kleine Staubecken errichtet, die bis heute die tiefer liegende Gegend vor Hochwasser schützen. Die „Schwestertalsperre“ an der Schwarzen Desse wurde in den 1920er Jahren gründlich renoviert, sie ist bis heute in Betrieb.