90 Jahre tschechoslowakische Volkspartei

Die Volkspartei ist die älteste bis heute bestehende politische Partei Tschechiens. Obwohl sie angesichts der gewonnenen Stimmen eher zu den kleineren politischen Subjekten gehört, spielte sie in der tschechischen Politik immer eine wichtige Rolle, im Negativen wie im Positiven.

Der Historiker Jaroslav Šebek
Das Christentum ist seit Jahrhunderten eine staatlich anerkannte Religion in Europa, gleich ob in der katholischen oder protestantischen Form. Die Kirche war eine verlängerte Hand der politischen Macht und sie bestimmte, was im menschlichen Verhalten richtig oder falsch war. Seit der französischen Revolution 1789 aber setzte sich schrittweise auch die Freiheit als Grundwert durch. Die Kirchen verloren ihre Machtlage und mussten ihre moralische Auffassung in einer liberaler werdenden Umgebung verteidigen. So entstand die christliche Politik, erklärt der Historiker Jaroslav Šebek.

„Diese Entwicklung hängt mit dem wachsenden Einfluss von Liberalismus und Sozialismus im 19. Jahrhundert zusammen. Diese beiden ideologischen Lager standen der katholischen Kirche sehr kritisch gegenüber und bemühten sich, sie aus dem öffentlichen Raum herauszudrängen. Die Kirche reagierte darauf mit der Gründung politischer Parteien, deren Ziel es war, die kirchlichen Interessen zu verteidigen und "christliche Werte" in der Gesellschaft durchzusetzen.“

Jan Šrámek  (Foto: ČTK)
Und so geschah es auch auf dem Gebiet des heutigen Tschechiens. Bereits zur Zeit der habsburgischen Monarchie entstanden hier mehrere christliche Parteien, die großen Einfluss vor allem in Mähren erwarben. Alle diesen Parteien vereinigten sich nach dem Ersten Weltkrieg und gründeten 1919 die Tschechoslowakische Volkspartei. Zu Beginn musste die Partei zahlreiche interne Konflikte lösen, da in ihr sowohl konservative, als auch progressive Strömungen vertreten waren. Dass die Partei ihre Einheit fand und auch bis Ende der "Ersten Republik" 1938 erhalten konnte, das war dem langjährigen, charismatischen Vorsitzenden Jan Šrámek zu verdanken. Interessanterweise war Šrámeks Beziehung zum damaligen Staatspräsidenten Tomáš Garrique Masaryk sehr gespannt. Mehrere Zeitgenossen berichteten, dass Masaryk eine persönliche Abneigung gegen Šrámek hegte. Dabei waren beide Männer Christen, sagt Jaroslav Šebek.

„Hierin zeigt sich deutlich, dass der Begriff "christlich" bei uns als "katholisch" verstanden wird. Und daraus können viele Missverständnisse hervorgehen. Während Jan Šrámek Vertreter der katholischen Tradition war, repräsentierte Tomáš Masaryk die protestantische, hussitische Strömung. Der Präsident hielt die katholische Kirche für eine reaktionäre, gegen den Fortschritt arbeitende Kraft, die Šrámek in der Politik verteidigte. Die Animositäten unter den beiden Politikern äußerten sich zum Beispiel bei der Zehnjahrfeier der Tschechoslowakei 1928. Masaryk ärgerte sich darüber, dass gerade Šrámek für die Regierung eine offizielle Rede hielt. Šrámek war damals nämlich Vize-Ministerpräsident und vertrat den erkrankten Regierungschef Antonín Švehla.“

Was jedoch die politischen Ideen betrifft, stand Šrámek Masaryk ziemlich nah. Šrámek war kein Konservativer. Im Gegenteil, er trat eindeutig für politische und bürgerliche Freiheit ein. Und auch dank ihm stand die Volkspartei bis 1938 zu diesen Prinzipien, obwohl einige Mitglieder auch die Einführung einer autoritären Regierungsform befürworteten. Ähnlich schätzte Šrámeks Rolle auch der Historiker Jaroslav Kadlec in seiner "Übersicht der tschechischen kirchlichen Geschichte" ein, die 1949 im Exil erschien. Darüber hinaus schreibt er jedoch wie folgt:

„Die katholischen, politischen Würdenträger rühmen sich damit, dass sie die Trennung von Kirche und Staat, die Verstaatlichung von kirchlichen Grundstücken und den Ausschluss der Theologie von der Prager Universität verhinderten. Sie betonen auch ihre Verdienste um die Beibehaltung des verpflichtenden katholischen Religionsunterrichts auf den Staatsschulen und die staatliche Anerkennung von kirchlichen Festen und Ehen. Diese Erfolge sind sicher nicht gering, aber eine katholische Partei mit einem Priester an der Spitze ist doch ein Anachronismus. Die enge Verbindung der politischen Aktivität mit der Religion führte in vielen Augen zur Gleichsetzung dieser unterschiedlichen Themenfelder. Das verursachte große geistige Entleerung des religiösen Lebens und eine Vergeudung der Kräfte, die besser genützt werden könnten. Auch die Verhinderung der Trennung der Kirche vom Staat erscheint heute als problematisch. Sowohl Präsident Masaryk, als auch Außenminister Edvard Beneš wünschten sich eine friedfertige Trennung im Einvernehmen mit dem Heiligen Stuhl.“

Der Einfluss der Volkspartei war in der Zwischenkriegszeit sehr groß und entsprach damit nicht den gewonnenen Stimmen in den Parlamentswahlen. Die Partei erlangte üblicherweise nur etwa 10 % der Wählerstimmen. Ihre Bastion war - und ist bis heute - Mähren. In Böhmen war die Bevölkerung schon damals säkularisiert, und die christlichen Demokraten hatten dort nur bescheidenen Erfolg. Trotzdem waren sie im Zeitraum von 1921 bis 1938 in allen tschechoslowakischen Regierungen vertreten. Sie galten als Zünglein an der Waage, und die großen Parteien bemühten sich stets, die Volkspartei auf ihrer Seite zu haben. Jaroslav Šebek:

„Zu diesen Parteien gehörte auch die Sozialdemokratie, deren traditionell antikatholische Spitze sich in den 30er Jahren ihre sehr mäßigte. Sie fand mit der Volkspartei gemeinsame programmatische Ziele, wie etwa soziale Gerechtigkeit. Diese Prinzipien standen damals auch in den Papst-Enzykliken und anderen Dokumenten der katholischen Kirche. Die Partnerschaft zwischen den christlichen und den Sozialdemokraten dauerte bis 1938 und beide Parteien lehnten konsequent die Zusammenarbeit sowohl mit Kommunisten als auch mit Faschisten ab. Es ist aber zu betonen, dass das in anderen Ländern nicht so war. In Österreich wurden zum Beispiel die Streitigkeiten zwischen der Christlich-Sozialen und der Sozialdemokratischen Partei immer größer, was auch zum Ausbruch des Bürgerkriegs 1934 beitrug.“

1938 vereinigte sich die Volkspartei mit anderen politischen Subjekten zur "Partei der nationalen Einheit", die der nazistischen Gefahr trotzen sollte. Dieses Konzept war jedoch nicht erfolgreich. Während des zweiten Weltkriegs leitete Jan Šrámek die tschechoslowakische Exilregierung in London und war einer der engsten Mitarbeiter von Präsident Edvard Beneš.

Nach der Befreiung der Tschechoslowakei von den Nazis wollten die christlichen Demokraten in den Parlamentswahlen 1946 an ihre frühere Rolle anknüpfen. Die Parteien des rechten politischen Spektrums waren verboten, womit die Volkspartei die einzige Gruppierung auf den Wahlzetteln war, die nicht der politischen Linken angehörte. Das Ergebnis war aber eine Enttäuschung: die Wahlen gewannen mit 46% der Stimmen die Kommunisten. Die Zeichen standen schlecht für ein demokratisches Gesellschaftssystem. In der Volkspartei setzten sich Opportunisten an die Spitze, die sich zur Kollaboration mit den Kommunisten bereit erklärten. Die Volkspartei wurde Mitglied der "Nationalen Front". Dort half sie in der Zeit des Totalitarismus mit, die kommunistische Politik zu verwirklichen, womit sie sich in den Augen vieler kompromittiert hatte.

Seit der Wende 1989 wirkt sie wieder als eigenständige Kraft in der tschechischen Politik und erfreut sich einer zwar relativ geringen aber stabilen Unterstützung von etwa 10 Prozent der Wähler. Ähnlich wie im Zeitraum zwischen den beiden Weltkriegen.