Die spannende Spurensuche nach der jüdischen Schriftstellerin Irma Singer

Irma Singer (Foto: © Chen Barak, Israel)

Literaturhistoriker haben es schwer. Oft müssen sie ihre Quellen erst mühsam in Archiven und Nachlässen aufstöbern. Finderglück spielt da auch eine Rolle. Noch schwerer wird es allerdings, wenn außer dem Quellenmaterial auch über Autor oder Autorin selbst kaum etwas bekannt ist. Dann sind detektivische Fähigkeiten gefordert. Die Literaturwissenschaftlerin Rosa Neubauer hat diese Fähigkeiten zweifellos. Radio Prag hat mit ihr für unsere Sendereihe Begegnungen über die spannende Spurensuche nach einer jüdischen Autorin aus Prag gesprochen.

Irma Singer. Ein Name, der bisher nur ausgewiesenen Kennern bekannt sein dürfte. Kennern jüdischer Kinderliteratur. Irma Singer, die aus Prag stammte, trat aber auch als Lyrikerin, Journalistin und Übersetzerin in Erscheinung. Trotzdem ist Irma Singer bis heute nahezu unbekannt geblieben. Die Literaturwissenschaftlerin Rahel Rosa Neubauer hat Irma Singer gewissermaßen wieder entdeckt.

„Was von Irma Singer bekannt war, sind ihre Kinderbücher, und zwar die in Wien erschienenen, das heißt die Kinderbücher, die bis 1938 erschienen. Und deren Bedeutung ist in der Forschung inzwischen bekannt.“

Ansonsten ist über Irma Singer so gut wie nichts bekannt, außer dass sie im Jahr 1920 aus Prag nach Palästina emigrierte. Seit Herbst 2004 widmet sich Rosa Neubauer daher mit großer Leidenschaft der Forschung zu Leben und Werk der Autorin. Angefangen hat alles mit einem Forschungsprojekt über jüdische Kinderliteratur in Wien. Im Zuge der Recherchen fokussierte sich das Interesse Neubauers dann auf Irma Singer. Die Pragerin Singer veröffentlichte 1918 in Wien ihre erste jüdische Märchensammlung „Das verschlossene Buch“. Warum die Autorin in Vergessenheit geriet, hat mehrere Gründe, wie Rosa Neubauer erklärt:

„Ab 1920 war sie erst einmal nicht mehr im Kultur- und Literaturbetrieb in Österreich anwesend. Sie ist nichtsdestotrotz bis 1938 über ihren Wiener Verleger verlegt worden. 1938 war nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten eine deren ersten Aktionen, dass sie diesen Wiener Verlag vernichtet und den Verleger ins KZ verschleppt haben. Mit der Ermordung ihres Wiener jüdischen Verlegers ist es ihr nie wieder gelungen einen deutschsprachigen Verlag zu bekommen.“

Fortan erschienen die Werke Irma Singers nur noch auf Hebräisch. Dabei zieht sich die Sprachproblematik wie ein roter Faden durch das Leben und das Werk der Schriftstellerin. Singer wuchs tschechischsprachig auf, besuchte aber in Prag deutsche Schulen und bediente sich fortan des Deutschen als Schriftsprache. Dies empfand sie schon damals als einen schwierigen Dualismus, den sie dann in Israel wiederholt sah, wo sie Hebräisch sprach, aber weiterhin auf Deutsch schrieb. Das bedeutet, dass bis heute die Originalversionen von Singers Märchen und Gedichten nicht erschienen sind. Nur Rosa Neubauers Einsatz ist es zu verdanken, dass die deutschen Originalskripte überhaupt wieder aufgefunden werden konnten.

„Mein erster Schritt war erst einmal nach Israel in diesen Kibbuz am See Genezareth zu fahren und zu schauen, ob es dort noch irgendetwas von Irma Singer gibt. Und das gibt es.“

Dabei traten Ergebnisse zu Tage, die auch für andere Bereiche der Literaturgeschichte von großer Bedeutung sind. Denn im Kibbuz-Archiv in Deganya, dem ersten Kibbuz auf dem Gebiet des heutigen Israels überhaupt, fand Rosa Neubauer nicht nur den gesamten literarischen Nachlass Irma Singers, sondern auch niedergeschriebene Erinnerungen an einen der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller überhaupt:

„Im Nachlass finden sich weitere Texte, in denen sie über ihre Bekanntschaft mit Franz Kafka spricht. Texte, in denen sie über seine Persönlichkeit erzählt und in denen sie vor allen Dingen Details darüber erzählt, auf welche Weise Franz Kafka Hebräisch gelernt hat. Und das ist für die Kafkologie, für die Forschung über Franz Kafka, ein gefundenes Fressen und von höchstem Interesse.“

Irma Singer nahm mit Franz Kafka zwei Jahre lang in Prag Hebräisch-Unterricht. Nach den Hebräisch-Stunden, die im Prager Stadtteil Podbaba stattfanden, begleitete Kafka Irma Singer oft nach Hause. Aus den Erinnerungen Singers zitiert Rosa Neubauer eine Passage:

„Als wir eines Tages von den Hebräisch-Stunden längs der Moldau entlang gingen und ich ihn bat, mir doch eines seiner Bücher zu geben, sagte er in ganz bescheidener, ungekünstelter und echter Form: ‚Lesen Sie das nicht! Es wird Ihnen nicht gefallen.’“

Diese Texte sind noch vollkommen unbekannt. Ihre Existenz ist jedoch schon jetzt für die Kafka-Forscher von großer Bedeutung. Auf dem jährlichen Bohemisten-Treffen des Collegium Carolinum in München hat Rosa Neubauer die Gelegenheit, ihre Fundstücke erstmals der internationalen Fachöffentlichkeit zu präsentieren, die schon sehnsüchtig darauf wartet. Das Collegium Carolinum ist eine renommierte Forschungsstelle zur Geschichte der böhmischen Länder.

Die ausgedehnten Forschungen Rosa Neubauers kosten natürlich Geld. Für ein Projekt über Prager jüdische Frauen erhielt Neubauer ein Forschungsstipendium von der Österreichischen Nationalbank, das sie in Archive nach Israel führte. Es kristallisierte sich dabei heraus, dass Irma Singers erste 20 Lebensjahre in Prag, Thema ihrer Dissertation sein würden. Finanziert werden Rosa Neubauers Forschungen unter anderem auch aus Tschechien:

„Anfang dieses Jahres habe dann ich ein Doktorandenstipendium vom Collegium Bohemicum in Ústí nad Labem, in Aussig an der Elbe erhalten.“

Denn gemeinsam mit Irma Singer entstand in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Palästina eine regelrechte Kolonie tschechoslowakischer Juden. Der berühmte Prager Religionsphilosoph Hugo Bergmann, mit dem Singer ins heutige Israel emigrierte, wusste darüber schon im Jahr 1921 zu berichten. Man lebe dort schon „ganz wie in Prage“ schrieb er damals in die alte Heimat:

„Es ist etwas ungemein Wohltuendes hier zu sein, diese gemütliche, vom Elternhaus gewohnte angenehm philiströse Umgebung mit Dorten und Gugelhupf und all den guten Sachen, welche meine Mutter so gut zu machen versteht und die es in Jerusalem nicht mehr gibt.“

Heimweh nach Prag und Böhmen hatte auch Irma Singer. Trotzdem verließ sie Prag, in der Juden schon damals vielerlei Arten von Schikanen über sich ergehen lassen mussten. Dass eine lebensbedrohliche Situation für die jüdische Bevölkerung in Prag entstehen könnte, glaubte aber kaum jemand. Ihre engste Verwandtschaft konnte die Entscheidung Irma Singers zur Emigration nicht nachvollziehen, wie Rosa Neubauer herausgefunden hat:

„Ihre Brüder haben sie für meschugge erklärt und haben gesagt: ‚Du spinnst, dass du da alleine als 22-jähriges Mädchen, als junge Frau, in die Wüste gehen willst, in eine fremde Sprache in eine fremde Kultur.’ Sie ist die einzige ihrer großen Familie, die den Holocaust überlebt hat, aufgrund dieser so früh entstandenen idealistischen, zionistischen Einstellung.“

Irma Singers Idealismus rettete ihr also das Leben. Im Jahre 1989 starb sie im Alter von 91 Jahren im Kibbuz Deganya, in dem sie fast 70 Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Durch den Vorzeige-Kibbuz, in dem sie unter anderem als Kindergärtnerin gearbeitet hat, führte sie im Laufe der Jahrzehnte auch eine Reihe berühmter internationaler Besucher, wie den ersten tschechoslowakischen Staatspräsidenten Tomáš Garrigue Masaryk oder auch Albert Einstein. Irma Singers Sohn Chen Barak lebt noch heute in Deganya. Er half Rosa Neubauer bei der Rekonstruktion der Biographie seiner Mutter und der Auswertung des Nachlasses, in dem sich noch massenweise unveröffentlichtes Material befindet. So soll für Rosa Neubauer die Beschäftigung mit Irma Singer auch nach Beendigung ihrer Dissertation nicht vorbei sein.

„Als nächstes Folgeprojekt ist die Begründung einer eigenen Buchreihe in Planung, im Rahmen derer ich dann natürlich die bisher in deutscher Sprache unveröffentlichten Romane und Erzählungen von Irma Singer veröffentlichen möchte.“