Das Misthaus ist tot - es lebe das Misthaus! Heinz Eggert über eine tschechoslowakisch-deutsche Legende

Das Misthaus vor dem Brand (Foto: AHZ, CC BY-SA 3.0 Unported)

Das so genannte Misthaus von Gustav Ginzel, eine kleine Hütte im Isergebirge, ist zur kommunistischen Zeit zu einer Legende geworden. Ein magischer Anziehungspunkt für Naturfreunde, Dissidenten und Politiker der Tschechoslowakei und der DDR. Zu den Gästen des Lebenskünstlers Ginzel gehörte vor und nach der Wende auch Heinz Eggert, der spätere Innenminister von Sachsen. Christian Rühmkorf hat mit ihm über diese Zeit, über Gustav Ginzel und das Misthaus gesprochen.

Das Misthaus vor dem Brand  (Foto: AHZ,  CC BY-SA 3.0 Unported)
"Es gab eine ganze Zeit in meinem Leben, wo ich gar kein Problem hatte mit der DDR-Diktatur. Auch gar kein Problem mit dem Kommunismus, weil ich staatskonform aufgewachsen bin."

Das war die Zeit, in der Heinz Eggert als Stellwerkmeister und Fahrdienstleiter bei der Deutschen Reichsbahn in Rostock gearbeitet hat. Die 60er Jahre in der DDR. Dass er Regimegegner wurde und Jahrzehnte später sächsischer Innenminister, das war in seiner Lebensplanung nicht vorgekommen. Es war ein einziger Tag, der die Weichen in seinem Leben umgestellt hat - das gewaltsame Ende des Prager Frühlings:

Gustav Ginzel  (Foto: CTK)
"Das war der 21. August 1968, weil ich Prag vorher kennen gelernt hatte, diese Stadt wunderschön fand, die Menschen aufgeschlossen - die Diskussionen über Kommunismus mit menschlichem Antlitz, Musik, die in der DDR verboten war, weil es die Musik des Klassenfeindes war. Also insgesamt eine Atmosphäre, wie ich sie nicht kannte, ein lebensfroher Kommunismus im Diskutieren und im Leben und im Feiern. Und von daher wusste ich, was am 21. August, in dieser Nacht niedergewalzt und mit den sowjetischen Panzern kaputtgemacht wurde. Das war mehr als der reale Schaden an Personen und Material, das war im Grunde eine der ganz großen Hoffnungen, die für uns alle in hohem Maße interessant war. Das hat mein Umdenken herbeigeführt."

Herbeigeführt hat es auch seinen Rauswurf bei der Deutschen Reichsbahn. Die Solidaritätserklärung für den Gewaltakt, den die Warschauer-Pakt-Armeen in Prag angerichtet hatten, wollte Heinz Eggert nicht unterschreiben. Es folgten die Beschäftigung mit Religion und ein Theologiestudium, er wurde Gemeindepfarrer in Oybin und Studentenpfarrer in Zittau. Eggert war zum Regimegegner geworden und - zum bespitzelten Subjekt.

Gustav Ginzel  (Foto: CTK)
Ebenso bespitzelt wurde Gustav Ginzel, einer von Eggerts Freunden auf der anderen, der tschechoslowakischen Seite der Berge. Ginzel rückten die Stasi und die tschechoslowakische STB zugleich auf die Pelle. Er entstammte einer sudetendeutschen Familie, war deutscher und tschechoslowakischer Staatsbürger und wohnte im nordböhmischen Isergebirge im so genannten Misthaus. Da haben sich Heinz Eggert und Gustav Ginzel in den 70er Jahren kennen gelernt.

"Ich hatte immer gehört, dass da so ein ausgesprochen lustiger Polit-Clown in Klein-Iser wohnt. Wir sind dann dort mal hingefahren und als ich mich vorstellen wollte, sagte Gustav Ginzel zu mir: ´Ich weiß schon, du bist der Pfarrer in Oybin, von dir hab ich auch schon genug Geschichten gehört´. Von daher waren wir uns an der Stelle dann beide ziemlich schnell sicher, dass wir die Richtigen waren. Und im Misthaus hat er uns natürlich mit Geschichten vollgestopft. Er war einfach schon eine crazy-faszinierende Persönlichkeit."

Vertrieben wurde Ginzels Familie deshalb nicht, weil sein Vater Spezialist für Textilmaschinen war. Er wurde gebraucht. Und Gustav konnte als Deutscher nur ein Fernstudium machen. Er war - erzählt Heinz Eggert - wohl das, was man am ehesten als Urgestein bezeichnen kann: Geologe, Bergsteiger, Höhlenforscher, Umweltschützer, Buchautor, Weltenbummler und Lebenskünstler und alles zugleich. Seine Basis war ein ehemals als Stall genutztes Häuschen im Isergebirge - das Misthaus. Als er es 1964 kaufte, war es meterhoch mit Mist gefüllt. Ginzel leitete einen Bach durch das Haus, spülte alles raus und machte das Misthaus mit Reiseandenken und Kuriositäten zu einer urig-chaotischen Übernachtungsstätte für Bergsteiger und Wanderer - und zu einem Treffpunkt von Oppositionellen aus der DDR und der Tschechoslowakei.

Stereoklo am Misthaus  (Foto: CTK)
"Das alte Misthaus hatte eine anziehende Faszination, ohne dass man jemals darin wohnen möchte. In der Küche sah es aus, als wäre dort ein Jahrhundertsturm durchgefegt und seitdem ist dort nichts mehr geschehen. Und Gustav hat aus seiner ordentlichen Unordentlichkeit nie einen Hehl gemacht, sondern er hat im Grunde zu allem, was dort war, eine Geschichte erzählt. Da hingen Backenzähne an der Wand, die er sich irgendwann mal hatte ziehen lassen, er erzählte, wo die gezogen worden waren. Man muss dazu wissen, dass er auch als Bergsteiger und Geologe viel im Ausland gewesen war, auch in Mexiko. Er war also sehr versiert und weitgereist. Und alle Leute, die dort im Misthaus waren, waren zunächst einmal fasziniert, hörten ihm gerne zu, aber waren auch froh, wenn sie wieder gehen konnten. Dann gab es aber auch welche, die oben auf dem Heuboden ihren Schlafsack ausbreiteten, dort wohnten und auf der russischen Toilette draußen ihre Geschäfte verrichteten. Sibirisches Klo nannte sich das ganze. Das war im Grunde nur ein Pfahl zum Festhalten und noch einer um die Wölfe zu vertreiben, falls mal welche ins Isergebirge kommen. Wie gesagt, er hat eigentlich vorweggenommen, was man heute als sehr sehr einfachen Abenteuerurlaub anbieten könnte für verwöhnte Spitzen-Millionäre, damit die sich noch mal wieder als Menschen fühlen."

Diese Faszination haben Gustav Ginzel und sein Misthaus zwar nicht auf Spitzen-Millionäre, aber doch auf Spitzen-Funktionäre ausgeübt, wie Heinz Eggert erzählt.

"Ich weiß auch, dass selbst Gustav Husak zu seinen Gästen gehörte. Es waren also nicht nur Andersdenkende, es waren nicht nur Wandervögel, es war auch das politische Establishment, das sich bei Gustav traf und womit man sich auch ganz gerne schmückte."

Das Misthaus heute  (Foto: Kolacek,  CC BY-SA 3.0 Unported)
Wie kam es zu diesem Besuch des tschechoslowakischen Staatspräsidenten?

"Also nach der Geschichte, die er mir erzählt hat, war das wohl so, dass die Regierungsmannschaften dort im Riesengebirge in etlichen Sonderheimen untergebracht waren. Wie immer natürlich mit besonderer Verpflegung und besonderem Service, den man der übrigen Bevölkerung vorenthielt, um sie nicht zu verwöhnen. Und da muss es einmal zu dieser Begegnung gekommen sein."

Husak und der Staatsfeind - so hätten die Zeitungen damals titeln können. Denn Ginzel wurde der Prozess gemacht:

Das Misthaus - 'Wegen Krankheit geschlossen'  (Foto: Hejkal,  CC BY-SA 2.0 Germany)
"Was wenig bekannt ist, ist auch, dass Gustav Ginzel einmal einen Prozess gegen die tschechoslowakische Regierung gewonnen hat. Man durfte ihn offiziell dann nicht als Staatsfeind bezeichnen. Es war ein Gericht in Prag, das ihm Recht gegeben hat. Er wurde vertreten auch durch einen Wanderfreund aus Österreich, einen sehr renommierten Rechtsanwalt. Und das ist wirklich damals ein Novum gewesen, dass er freigesprochen wurde."

Ein Lichtblick von Rechtstaatlichkeit in der kommunistischen Tschechoslowakei?

"Ja, aber ein Lichtblick ergibt eben noch keinen Sternenhimmel."

Gustav Ginzel lebt heute bei seiner Schwester im Allgäu. Das Misthaus existiert nur noch als Nachbau. 1995 ist es komplett abgebrannt. Dank einer Spendenaktion in Deutschland steht es wieder, aber es ist verwaist. Seine große Zeit hatte Gustav Ginzel in den letzten zehn Jahren vor der Wende 1989. Ginzel hat sich augenzwinkernd immer als "Wendeopfer" bezeichnet, weil die Leute dann lieber in die Welt anstatt ins Misthaus reisten. Einer, der noch gekommen ist, war Heinz Eggert:

"Als ich dann sächsischer Innenminister wurde, sind wir eine Woche darauf mit drei Wagen - das war halt so, dass ich in einem gepanzerten Wagen gefahren wurde und zwei gepanzerte noch hinterher fuhren - zu Gustav ins Misthaus gefahren und haben natürlich vorher auch Blaulicht angemacht, damit er sich freut. Und er hat dann ausführlich und immer wieder erzählt, dass der erste Staatsbesuch des sächsischen Innenministers ihm gegolten hätte und nicht Prag."