Mengeles Zwilling A-782

Jiří und Josef Fišer (Foto: Archiv des Verlags ZEĎ)
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Sie werden als „Mengeles Zwillinge“ bezeichnet: Kinder, an denen der SS-Arzt Josef Mengele in Auschwitz-Birkenau seine medizinischen Experimente durchführte.

Jiří und Josef Fišer  (Foto: Archiv des Verlags ZEĎ)

Foto: Karel Šanda
„Mengeles Zwilling A-782“. Das ist der Titel eines Buches, in dem die Erinnerungen von Jiří Fišer verarbeitet sind. Das Buch wurde vom Publizisten Pavel Baroch verfasst. Jiří Fišer sei der letzte noch lebende Zwilling in Tschechien, an dem Josef Mengele seine abscheulichen Experimente durchgeführt hat, sagt der Autor.

Die Zwillingsbrüder Jiří und Josef kamen im Januar 1936 in einer jüdischen Familie in Česká Třebová / Böhmisch Trübau zur Welt. Der Vater Arnold starb 1941 im KZ Neungamme, allerdings nicht wegen seiner jüdischen Abstammung, sondern weil er sich an der Widerstandsbewegung beteiligte. Der Rest der Familie, das heißt die Mutter Emilie, die ältere Schwester Věra sowie die beiden Brüder, wurden 1942 ins KZ Terezín / Theresienstadt verschleppt. Zwei Jahre später wurden sie nach Auschwitz gebracht. Pavel Baroch:

Josef Mengele  (Foto: Public Domain)
„Das Schicksal der Geschwister Fišer bestätigt die Berichte darüber, was sich dort damals abgespielt hat. Dieser Fall zeigt, wie dünn die Grenze zwischen Leben und Tod war.“

Laut dem Autor hatte Jiří Fišer bei seinem Schicksal mehrmals Glück im Unglück:

„Erstens hatte er Glück, das er einen Zwillingsbruder hatte. Hätte er ihn nicht gehabt, wäre er wohl gleich nach der Ankunft in Auschwitz vergast worden. Allerdings wurden Jiřís Mutter und seine ältere Schwester in der Gas-Kammer umgebracht. Das war im Juli 1944. Die Geschwister Jiří und Josef kamen in die ‚Klinik‘ von Josef Mengele.“

‚Klinik‘ in Auschwitz-Birkenau

Neun Monate verbrachten die beiden Brüder dort. Josef Mengele wählte sie für seine Forschungen aus. Der Hauptarzt im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und einer der bekanntesten Nazi-Verbrecher führte dort grausame Experimente an den Häftlingen durch. Eine besondere Vorliebe hatte er für Zwillinge. Jiří Fišer hat Mengeles Vorgehen im Rahmen des Projekts Paměť národa des Tschechischen Rundfunks beschrieben:

„Mengeles Zwillinge“ in Auschwitz-Birkenau  (Foto: Archiv Post Bellum)
„Wir kamen in eine Baracke, die unter Mengeles Aufsicht stand. Sie war für Zwillinge bestimmt. Dort sah es etwas anders aus als in den Familienbaracken, anstatt vier Stöcken hatten die Betten hier nur zwei bis drei Stöcke. Mengele wollte pseudoärztliche Versuche mit uns machen. Er hat zum Beispiel die Zwillinge Temperaturen von minus 20 Grad Celsius ausgesetzt und beobachtet, ob sie überlebten.“

Auch Jiří und Josef wurden ähnlichen Experimenten unterzogen.

„Er hat uns eine Spritze mit einer Substanz gegeben, die eine Fiebererkrankung verursachte. Dann hat er beobachtet, ob die Krankheit bei den Zwillingen den gleichen Verlauf nimmt. Manchmal war es so, manchmal unterschiedlich. Regelmäßig hat er uns Blut genommen. Er hat erforscht, wieviel Blut man braucht, um überleben zu können. Oder er experimentierte, wie lange Kinder ohne Wasser und ohne Essen am Leben bleiben.“

Jiří Fišer  (Foto: Karel Šanda)
Jiří Fišer erinnert sich persönlich an Josef Mengele, den sogenannten Todesengel.

„Ich habe Mengele nicht sonderlich beachtet. Ich erinnere mich nicht, dass ich mal von ihm verprügelt worden wäre. Er machte das intelligent. Er hatte dafür Andere, die uns ausgepeitscht haben. Seine Haltung zu mir war neutral, meine zu ihm auch, und ich habe ihn kaum wahrgenommen.“

Glück im Unglück

Auch bei Mengeles Zwillingsforschung habe das Glück bei den Brüdern Jiří und Josef gestanden, betont Pavel Baroch:

„Sie hatten Glück, dass Mengele nicht seine brutalsten Versuche an ihnen durchgeführt hat, diese haben oft zum Tod geführt. Mengele hat zum Beispiel Geschwister aneinandergenäht. Sie haben dann mehrere Tage gelitten, bis sie starben. Laut Jiří Fišer lag dies an ihrem damaligen jungen Alter. Für die brutalsten Experimente seien ältere Zwillinge genommen worden.“

Foto: Archiv des Verlags ZEĎ
Und Glück hätten die Brüder auch während eines nächtlichen Raubs gehabt, erzählt Baroch weiter:

„Einmal hatten sie Hunger und schlossen sich einer Gruppe Häftlinge an, die in der Nacht das sogenannte Kanada-Lager ausraubten. Dort lagerten alle Sachen, die den Juden und weiteren Häftlingen nach der Ankunft in Auschwitz abgenommen worden waren. Darunter war auch Essen. Die Wache bemerkte die Häftlinge aber und schoss auf sie. Weil die Jungs aber klein waren, flogen die Kugeln über ihre Köpfe hinweg und trafen sie nicht.“

Und so erlebten die Brüder die Befreiung des Vernichtungslagers durch die Rote Armee am 27. Januar 1945. Einige Wochen danach wurden sie in ein Kinderheim in der slowakischen Stadt Košice / Kaschau gebracht, die damals schon frei war. Dort holte sie später ihr Onkel ab, der den Krieg überlebt hatte. Nach dem Krieg ging Jiří Fišer auf eine Militärschule. Weil er aber durch den KZ-Aufenthalt eine Gelenkerkrankung hatte, musste er die Armee wieder verlassen. Heute ist er 83 Jahre alt und lebt mit seiner Frau in der mährischen Stadt Mohelnice / Müglitz. Der Bruder Josef starb 2011 im Alter von 75 Jahren.

„Mengeles Zwilling A-782“  (Foto: Archiv des Verlags ZEĎ)
Wie Pavel Baroch sagt, hat Jiří Fišer selbst die Entstehung des Buchs „Mengeles Zwilling A-782“ angeregt:

„Wir haben uns vor einem Jahr, im Januar 2019, kennengelernt. Ich wollte einen Zeitzeugen kontaktieren und einen Artikel zum damaligen 74. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz veröffentlichen. Im Internet bin ich auf Jiří Fischer gestoßen. Sein Name ist nicht völlig unbekannt, er veranstaltet Debatten in Schulen und erzählt über sein Leben. Schließlich habe ich ihn in seinem Haus in Mohelnice besucht. Wir haben uns damals etwa zwei bis drei Stunden lang unterhalten. Er erzählte seine Erinnerungen an Theresienstadt und Auschwitz und seine Erfahrungen mit Josef Mengele. Mein Artikel hat Jiří Fischer gefallen. Er hat sich selbst bei mir gemeldet und angeregt, ein Buch mit gründlicheren Details nicht nur über ihn, sondern über die damalige Zeit und die Umstände zu schreiben.“

Im Sommer 2019 besuchten der Buchautor und der Zeitzeuge gemeinsam die Gedenkstätte in Auschwitz-Birkenau. Und was hat den Brüdern damals geholfen, die Grausamkeiten des Lagers zu überleben? Pavel Baroch:

„Sie wollten den Tod nicht wahrhaben, obwohl sie ihm sehr nah standen und sogar Leichen um sich sahen. Erst im Rückblick sind sie sich dessen bewusst geworden, was ihnen alles hätte passieren können.“

Pavel Baroch und Jiří Fišer  (Foto: Karel Šanda)