Roma-Kultur: Familientradition als Problem?

Roma-Ghetto Cihelna, Ostslowakei (Foto: Mark Wiedorn)

Das internationale Roma-Kulturfestival "Khamoro" - auf Romani "Sonne" lockte Ende Mai nicht nur Musikfreunde zu Gipsy Jazz und traditioneller Roma-Musik nach Prag. Besucher konnten auch Fachseminare besuchen und mit Experten diskutieren. Die Fragen: Ist Roma-Kultur ein Benachteiligungsfaktor? Wie soll die junge Roma-Generation mit alten Traditionen umgehen? Für die Sendereihe "Forum Gesellschaft" berichtet Daniel Satra.

Khamoro 04 'Goldene Zigeuner'  (Foto: Jana Sustova)
Roma und vor allem ihre Musik - Gipsy Jazz und Traditionelles. Sie standen im Mittelpunkt des internationalen Kulturfestivals "Khamoro". Aber auch Roma und ihre Rolle in der tschechischen Gesellschaft, im kulturellen und im sozialen Raum Europas waren Thema der Kulturwoche. Ein Bericht, den Amnesty International kürzlich veröffentlichte warf ein Schlaglicht auf ihre soziale Stellung in Tschechien: Roma sind weiterhin diskriminiert. Sie sind überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen, Roma-Kinder besuchen in der Mehrzahl Sonderschulen. Themen wie der soziale Ausschluss der Roma-Community oder die Visionen junger Roma standen daher auch bei "Khamoro" zur Diskussion. Jelena Silajdzic, Direktorin des Festivals:

"Es gibt unterschiedliche Vorstellungen darüber, was Roma-Tradition bedeutet - in welcher Weise sie die Zukunft der jungen Roma-Generation und der Roma überhaupt einschränkt oder fördert. Auf den Seminaren kommen unterschiedliche Theorien und Gedanken dazu zur Sprache."

Jelena Silajdzic
Eine Expertenrunde stellte sich die Frage nach der Bedeutung der Roma-Kultur. Welchen Einfluss hat sie auf die soziale Lage der Roma in Europa. Oder mit den Worten der Expertenrunde: Ist Roma-Kultur ein Benachteiligungsfaktor? Marek Jakoubek, Anthropologe an der Universität Pilsen:

"Der Kern der traditionellen Roma-Kultur und damit der größte Unterschied zur Tradition der Mehrheitsgesellschaft liegt nicht in Folklore, in Liedern, im Tanz und nicht einmal in der Sprache, sondern in der sozialen Organisation der traditionellen Roma-Gemeinschaft."

Verwandtschaft und Familie als zentrale Organisationsform im Leben der Roma stehen nach Jakoubeks Ansicht einer auf Wirtschaft und Politik ausgerichteten tschechischen Gesellschaft gegenüber. Einer Gesellschaft im Zeitalter der Moderne, deren Mitglieder individuelle Lebensentwürfe entwickeln, die sich von Vorstellungen wie Familie und Generationszusammenhalt gelöst haben. Eine traditionelle Roma-Familie jedoch, geprägt durch ihren Zusammenhalt, wehre sich gegen die Emanzipation einzelner Mitglieder.

"Sie stellt sich ausdrücklich gegen die Emanzipation Einzelner, um die Familieneinheit zu erhalten. Ein Statusanstieg eines einzelnen Familienmitgliedes ist von Seiten seiner Verwandten nicht erwünscht. Denn als indirekte Folge werden oft die solidarischen Beziehungen in der Familie geschwächt."

Die Familie als kollektives Ganzes, das in vielen Fällen Privateigentum verbietet, blockiert den sozialen Aufstieg einzelner Roma, so Jakoubeks These. Zwar sei das solidarische Familienprinzip Garant von Stabilität und Sicherheit, jedoch könne die Abgeschlossenheit nach Außen oft zur Armutsfalle werden. In der stecken dann ganze Familien.

Neziri Nedzmedin von der Roma-Union ehemaliger Jugoslawen (URYD) widerspricht dem tschechische Anthropologen: Zwar spiele Familie im Alltag der Roma eine wichtige Rolle. Die ungleiche soziale Ausgangslage der Roma in Europa führt Nedzmedin jedoch auf die politischen Rahmenbedingungen zurück: Die Politik sei es, die Diskriminierung Vorschub leistet. Damit teilt Nedzmedin die Ergebnisse von Amnesty International: Tschechien habe keine ausreichende Kampagne gegen Diskriminierung ins Leben gerufen. Es fehle an Gesundheitsprogrammen und an Ausbildungsförderung für junge Roma. Zudem seien Übergriffe tschechischer Polizisten gegen Roma nicht gemäß internationaler Standards unabhängig und unparteiisch verhandelt worden, so die Kritik. Viktor Sekyt, im Regierungsamt zuständig für Roma-Fragen:

"Es ist nicht so, dass die Situation der Roma nur auf Grund von Diskriminierung und Unverständnis der Mehrheitsgesellschaft schlecht ist. Auf der anderen Seite lässt sich auch nicht sagen, dass nur die Institution Roma-Familie für die soziale Lage der Roma verantwortlich ist. An beidem ist ein großes Stück Wahrheit dran."

Zudem fasse Jakoubeks Begriff der Roma-Kultur das Leben in Roma-Siedlungen, wie sie in der Ostslowakei an Stadträndern vorkommen, oder in Tschechien als Stadtteil-Ghettos. Roma-Kultur, so betonte Sekyt, sei kein statischer Zustand, keine determinierte soziale Lage. Viktor Sekyt:

"Wir sehen dies am Beispiel vieler Roma, die es schaffen ihre Roma-Kultur mit einer Ausbildung zu verbinden. Jedoch ist dies eine überaus schwierige Aufgabe. Das gelingt wirklich nur wenigen. Es ist sicher auch kein Zufall, dass viele Roma, die Zugang zu höherer Bildung erhalten, zugleich ihre Identität als Roma verlieren."

Es sei keine Ausnahme, dass traditionelle Roma-Familien ihren Kindern eine weiterführende Schulausbildung verwehren. Laut Sekyt sind es nicht immer Lehrer, die Sonderschulempfehlungen für Roma-Kinder aussprechen, sondern auch ihre Eltern. Auch Sekyt beobachtet ein ausgeprägtes Zusammengehörigkeitsgefühl, eine Familien-Solidarität, in traditionellen Roma-Familien. Eine Solidarität, die den einzelnen einschränkt, sagt Sekyt:

"Gerade diese Solidarität kann in manchen Fällen die eigene Entwicklung behindern. Denn, wenn ich mich um all meine Geschwister kümmern muss, wenn ich bei jeder Entscheidung auf die Meinung meiner Eltern und die der älteren Familienmitglieder Rücksicht nehmen muss, kann meien individuelle Entwicklung damit gebremst werden."

Lalla Weiss, Sinti und Roma-Sprecherin aus den Niederlanden, stellte sich das Thema der Expertendiskussion als Frage: Ist Roma-Kultur ein Benachteiligungs-Faktor?

"Ich dachte: Wer stellt sich diese Frage? Sinti und Roma selbst? Wenn das der Fall ist, dann lese ich dies nicht als den Titel eines Seminars, sondern als einen Hilfeschrei. Die Ursache für eine solche Frage liegt in unseren Erfahrungen, in unserer Vergangenheit und in unserer Geschichte. Sinti und Roma sind schon über 1000 Jahre in Europa."

Nicht in den gegenwärtigen sozialen Lagen oft am unteren Rand der Gesellschaft sieht Weiss den Kern des Problems. Für sie ist es die Geschichte, die Antworten geben kann. Denn Roma leben über 1000 Jahre in Europa. In einem Europa, dass Roma zuerst gastfreundlich empfangen hatte. Später - verunglimpft und misstrauisch beäugt - galten Sinti und Roma als die Spione gegnerischer Armeen. Die Kirche warnte im Mittelalter vor ihnen: Wahrsager und Naturheiler - alles Gesandte des Teufels. Das Bild, das Sinti und Roma als so genannte "Zigeuner" zeichnet, entstand im 18. und 19. Jahrhundert, und gilt für viele bis heute, sagt Weiss. Schmutzig, faul, unehrlich - "Zigeuner" eben. Die Verfolgung im Dritten Reich war grausame Folge einer Stigmatisierung, die auf eine lange Geschichte zurückblickt. Die Benachteiligung von Roma in den europäischen Gesellschaften, und die Auswirkungen auf ihre sozialen Chancen. Antworten für dieses Problem, soviel konnte die Expertenrunde zeigen, gibt es viele. In ihrem Zusammenspiel könnte eine Lösung liegen.