Zeit des Niedergangs - der böhmische Adel im 20. Jahrhundert

Аристокрация во время барокко

Kinsky, Lobkowicz oder Colleredo-Mansfeld - klangvolle Namen trägt der böhmische Adel. Doch vor 90 Jahren verfügte der noch junge tschechoslowakische Staat, dass es aus ist mit den Titeln. Baron, Fürst oder Ritter sollte nicht mehr am Anfang der Namen auftauchen. Das Gesetz vom 10. Dezember 1918 über die Abschaffung der Titel läutete den Niedergang des böhmischen Adels ein. Besiegelt wurde das Schicksal des Adels jedoch durch die nationalsozialistische Besetzung des Landes und ab 1948 die kommunistische Machtübernahme. Weltweit anerkannter Fachmann für diese jüngste Zeit in der Geschichte blauen Blutes in Böhmen ist der tschechische Publizist Vladimír Votýpka.

Gäbe es Vladimír Votýpka nicht, dann wäre heute vieles aus der jüngsten Geschichte des böhmischen Adels unbekannt. Bereits zu kommunistischen Zeiten Mitte der 60er Jahre begann er mit seinen Forschungen. Ausgangspunkt waren Recherchen zu verfallenen Herrschaftssitzen, die der tschechoslowakische Staat zur Rekonstruktion an Privatiers verkaufen wollte. Auf diese Weise sah Votýpka mehr als die normalen Besucher:

„Ich habe auch die Archive gesehen, zum Beispiel in Jindřichův Hradec. Das hat mich ziemlich erschreckt, weil da herrliche Dinge lagerten - Gobelins, alte Möbel oder Bilder, die zerfielen und vermoderten. Niemand verhinderte das, niemand interessierte sich. Da dachte ich: Was dazu wohl die früheren Besitzer sagen würden, wenn sie dies sehen könnten? Und ich entschied mich, so jemanden aufzusuchen.“

In seinem journalistischen Eifer gelang es Vladimír Votýpka, bis Anfang der 70er Jahre zehn Gespräche mit Adligen zu führen. Diese musste er aber wegen der einsetzenden Repression ab 1969 bis zur politischen Wende unter Verschluss halten. Erst dann konnte Votýpka drei Bände über Familiengeschichten des böhmischen Adels veröffentlichen.

Wie verlief sie nun, die Geschichte des böhmischen Adels im 20. Jahrhundert? Sie war geprägt vom Niedergang. Um 1900, also noch zu Zeiten der k.u.k. Monarchie, bildete der Adel noch die Elite auf dem böhmischen Land. Er besaß über ein Drittel aller Ländereien. Allein den reichsten 38 Familien gehörten 18 Prozent des Bodens, wie der englische Historiker Eagle Glassheim vor wenigen Jahren zusammengerechnet hat. Böhmische Adlige hatten aber auch Regierungsämter am Wiener Hof inne. Erst der heutige tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg knüpft an diese Zeit an. Zugleich bekannten sich unter anderem die Schwarzenbergs wie auch die Familien Thun, Sternberg oder weitere bereits ab Anfang des 19. Jahrhunderts zur böhmischen Kultur. Die Gründung der national-liberalen Tschechoslowakischen Republik stellte den Adel vor eine neue Herausforderung.

„Einige fanden sich mit der Ersten Republik ab, weil sie begriffen, dass ihnen nichts anderes übrig blieb und die Entwicklung in dieser Richtung weiter gehen würde. Manche empfanden Masaryk als schlechten Ersatz für Kaiser Franz Joseph beziehungsweise für die Figur des gerechten und objektiven Monarchen. Sie spürten, dass der Präsident ein schwankender Ersatz war, der sich immer mal zur einen wie zur anderen Seite neigen konnte“, so Votýpka.

Als eine der ersten Amtshandlungen des neuen tschechoslowakischen Staates wurde im Dezember 1918 das Gesetz über die Abschaffung der Adelstitel erlassen. Es hatte jedoch keine sonderlich große Tragweite, wie Vladimír Votýpka sagt:

„Wie das in Böhmen so Brauch ist, wird ein Gutteil der Gesetze nicht eingehalten. Niemand wurde damals also dafür bestraft, dass er in seinem Briefkopf den Titel Baron hatte. Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass auch kaum ein Adliger den Titel im Briefkopf führte. Falls das doch der Fall war, dann war dies meist jemand, der sich als Adliger nur ausgab. Die Adligen selbst legten keinen sonderlichen Wert darauf.“

Doch die Marschrichtung war vorgegeben: Die Adligen konnten sich ihrer Privilegien nicht mehr sicher sein.

„Auf das Gesetz über die Adelstitel folgte 1927 die Bodenreform. Die Reform betraf sowohl die Wälder als auch den Ackerboden. An den Wäldern herrschte kaum Interesse, der Bodenhunger bei Äckern war hingegen groß. So kam es zu es zu einer starken Parzellierung des Adelsbesitzes. Zum Beispiel Graf Sternberg aus Český Šternberk / Böhmisch Sternberg besaß zwölf Höfe. Davon blieb ihm nur knapp die Hälfte.“

Die große Probe für die meist deutschsprachigen böhmischen Adligen sollte jedoch erst noch kommen: die Besetzung durch Hitlerdeutschland. Als im September 1938 bereits die Okkupation drohte, begab sich eine Gruppe Adliger unter der Führung der Schwarzenberg, Lobkowicz und Kinsky auf die Prager Burg und erklärte dem Staat ihre Treue. Vladimír Votýpka:

„Es war eine mehrköpfige Gruppe unter der Führung des Fürsten Kinsky aus Kostelec nad Orlici, einem hoch gewachsenen schöner Mann, und sie übergab Präsident Beneš eine Erklärung, dass die Grenzen des Königreichs Böhmen und Mähren unantastbar seien. Die Adligen waren der Ansicht, dass der Staat sich gegen Hitler-Deutschland verteidigen sollte und keinesfalls kapitulieren, wozu es aber am Ende doch kam.“

Anschluss Sudetenlands  (Foto: Wikimedia Commons / PD)
Nach der Okkupation der Sudetengebiete im Oktober 1938 und der Annexion des restlichen Staatsgebiets im März 1939 war der böhmische Adel gespalten. Es gab jene, die sich den neuen nationalsozialistischen Herren zuwandten - wie viele mit den Nazis kollaborierten, ist nicht bekannt. Es gab aber auch jene Gruppe, die dem tschechischen Staat treu blieb. 69 Adlige schickten im September 1939 eine erneute Loyalitätsbekundung an den Präsidenten Emil Hácha. Einige Adlige wie Zdeněk Bořek Dohalský arbeiteten sogar für den Widerstand und wurden von den Nationalsozialisten festgenommen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden einige Adelsfamilien noch vor dem Machtantritt der Kommunisten aufgrund der Beneš-Dekrete enteignet. Der Rest folgte ab dem Februar 1948, also mit der kommunistischen Machtübernahme. Die Adligen galten nun als Klassenfeinde. Wenn sie nicht schon vorher geflohen waren oder dann flohen, wurden sie häufig unter fadenscheinigen Begründungen verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt oder auf andere Weise benachteiligt. So durften sie beispielsweise meist nicht studieren. Die Abfolge von Nationalsozialismus und Kommunismus prüfte viele Adelsfamilien auch durch harte Schicksale. Beispielsweise starben zwei von vier Brüdern aus dem Geschlecht der Bořek-Dohalskýs:

„Einer der Brüder starb in Theresienstadt, der andere in einem anderen Konzentrationslager. Dieser erste Bruder wusste, dass es zum Attentat auf den Reichsprotektor Heydrich kommt. Er hatte dies einige Tage im Voraus erfahren, aber niemandem etwas gesagt. Doch die Deutschen waren konsequent, sie bekamen das raus, brachten ihn ins Gefängnis nach Prag-Pankrác und dann nach Theresienstadt. Dort erschossen sie ihn nur wenige Wochen vor Kriegsende. Ein weiterer der Dohalský-Brüder überlebte und wurde Botschafter der Tschechoslowakei in Österreich. 1948 wurde er des Amtes enthoben. Die Kommunisten verurteilten jedoch seinen Sohn zu 15 Jahren Haft mit Zwangsarbeit im Uran-Bergwerk, von denen dieser neun Jahre absaß. So ging das damals weiter“, erzählt Vladimír Votýpka.

Nach 1989 haben die Nachkommen des böhmischen Adels rund 200 Anträge auf Rückerstattung des Eigentums ihrer Familien gestellt. Bis heute wurden etwa 60 Burgen und Schlösser zurückgegeben. Die erfolgreichsten waren die Familien Kinsky, Schwarzenberg, Sternberg oder Kolowrat. Doch um viele Grundstücke wird bis heute erbitterter Rechtsstreit geführt. Heutzutage leben in Tschechien rund 30 adlige Familien.

Autor: Till Janzer
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